Knapp 100 Jahre nach der Wiener Uraufführung hat das Staatstheater Mainz Franz Lehárs Operette „Eva“ wieder ausgegraben – und beweist, dass es bei Lehár jenseits von „Lustiger Witwe“ und „Land des Lächelns“ noch etwas zu entdecken gibt. Der Eindruck eines erschrockenen Uraufführungsrezensenten, hier werde dem Publikum „die soziale Frage im Dreivierteltakt vorgesetzt“, lässt sich allerdings kaum nachvollziehen. Viel eher zeigt „Eva“ in Cordula Däupers Inszenierung, wie ein Operetten-Traum funktioniert
Die Arbeitswelt kommt im Szenario, das Lehárs Librettisten Alfred Maria Willner und Robert Bodanzky durch die Bearbeitung von Ernst von Wildenbruchs Drama „Die Haubenlerche“ gewannen, nicht wirklich vor. Eva, die Titelheldin, ist allerdings als Pflegetochter des Vorarbeiters Larousse in einer Brüsseler Glasfabrik aufgewachsen. Doch als sich der Vorhang öffnet, feiert die Belegschaft gerade Evas 20. Geburtstag, und dann gehen alle in die Mittagspause. In der Zwischenzeit erscheint der neue Fabrikchef Gustave Flaubert, ein Pariser Lebemann, der das Werk von seinem verstorbenen Onkel geerbt hat. Seine erste Amtshandlung ist, den Arbeitern den Nachmittag frei zu geben und eine Sondergratifikation auszuzahlen.
Was den Konflikt dann in Bewegung bringt, ist die modernisierte Variante der uralten, aus der Ständegesellschaft überlieferten Konstellation von der Beziehung eines hohen Herrn zu einem einfachen Mädchen: Flaubert verguckt sich in Eva, und sie geht auf seine Avancen ein. Bindemittel für die ungleiche Verbindung ist der Operettentraum vom Pariser Leben. Im Walzertakt träumt Eva von ihrer früh verstorbenen Mutter, die schön, elegant und lebenslustig gewesen sein soll, und der „Pariser Pflastertreter“ findet in dem unverbrauchten junge Mädchen einen ungewohnten neuen Reiz. Beide beschwören dabei ausdrücklich das „Aschenputtel“-Märchen, und auch der alte biblische Verführungsmythos von Adam und Eva wird zitiert.
Als Flaubert Eva auf seine Party mit den angereisten Pariser Freunden in die nahe Fabrikantenvilla mitnimmt, rebellieren die Arbeiter unter Führung von Larousse. Sie wollen nicht, dass „ihre Eva“ mal eben vernascht wird, geben sich aber zufrieden, als Flaubert von ihr als seiner Braut spricht. Wie er sich dann der schlauen Notlüge rühmt, reißt die junge Frau aus ihrem Traum. Desillusioniert und blamiert, aber auch abenteuerlustig zieht sie nach Paris zu Pepita Paquerette, einer charmanten Warenhausverkäuferin mit Draht zur Pariser Halbwelt. Die hat den Trick kultiviert, sich zahlungskräftigen Männer an den Hals zu werfen, die sie vor den brutalen Nachstellungen ihres (gar nicht existierenden) Ehemannes in Sicherheit bringen sollen. Zeitweilig, bis diesem das Geld ausging, war sie die Gespielin von Dagobert Millefleurs, einem jugendlich-naiven Freund Flauberts, und hatte diesen nach Brüssel begleitet. Der zur erfolgreichen Gesellschaftsdame avancierten Eva aber winkt schon eine einträgliche Heirat mit dem ältlichen Herzog von Morny, da trifft sie noch einmal auf Flaubert, der sie nicht vergessen konnte. Nach einer Aussprache wagen die beiden einen Neuanfang.
Cordula Däupers kluge, witzige, unterhaltsame und hintergründige Inszenierung wertet eine wichtige Nebenrolle auf: Prunelles, der gewiefte Buchhalter Flauberts, ist teils Beobachter, teils Drahtzieher, und zugleich eine Art Conferéncier, der das Publikum auf dem Laufenden hält. Anfangs erscheint er als das fleischgewordene Realitätsprinzip – der einzige, der in diesem Bühnen-Brüssel ein geradezu calvinistisches Arbeits- und Pflichtethos an den Tag legt. Erst nach einer Weile gewährt er einen Blick hinter die korrekte Fassade. Er kennt Paris, hat selbst einschlägige Erfahrungen mit Pepita Pacquerette gemacht, ist einem erneuten Abenteuer mit ihr nicht abgeneigt und hat auch keine Bedenken, sich die Dame als angeblicher Ehemann vom reichen Millefleurs abkaufen zu lassen. Dass er zu seinem Leidweisen am Ende unbeweibt bleibt, ist nicht ohne Logik. Dieser Prunelles, der einfach zu klug ist für die Operette, scheint Joachim Mäder aus dem Schauspielensemble als Paraderolle wie auf den Leib geschrieben.
Die Titelrolle ist bei Vida Mikneviciute in guten Händen. Sängerisch kann sie die Opernstimme nicht verleugnen; gerade die Tiefe könnte man sich etwas leichter vorstellen. Aber so wie singt und spielt, macht sie ihr Timbre glaubhaft: Eva glaubt sich ja - halb bewusst - zu Besserem berufen. Hinreißend gestaltet Alexander Spemann den Fabrikanten wider Willen. Wie er mit großer Geste beifallsheischend durchs Werkstor stürmt, hinter dem niemand wartet außer dem knochentrockenen Prunelles, etabliert er den Charakter schon, ohne ein Wort gesungen oder gesprochen zu haben. Jürgen Rust gibt einen sehr seriösen, fast tragischen Pflegevater Larousse, Thorsten Büttner einen ungestümen Dagobert Millefleurs und Tatjana Charalgina eine charmant-hintertriebene Pepita Paquerette. Personenführung und Interaktion sind von exquisiter Qualität. Dies gilt auch für den Chor des Staatstheaters, der mit der Brüsseler Arbeiterschaft und der Pariser Lebewelt zwei völlig gegensätzliche Milieus verkörpert. Dass sämtliche Hauptdarsteller – wohl mit Rücksicht auf den Prunelles-Darsteller Mäder – mikrofoniert sind, irritiert ein wenig; allerdings wird die elektronische Verstärkung sehr dezent eingesetzt.
Wie Chordirektor Sebastian Hernandez-Laverny als Dirigent der Produktion das Ensemble mitsamt dem Philharmonischen Staatsorchester Mainz durch die Partitur führt, verrät ein sensibles Gespür für Proportionen, Timing und Farbe, und lädt ein, Lehárs musikalische Palette zu entdecken. Im kurzen Moment der drohenden Arbeiterrevolte schlägt der Komponist einen ungewohnt dissonanten und fanfarenartigen Ton an. Ansonsten dominiert – wie erwartet - die musikalische Traumwelt von Walzer, Csardas und Cancan. Dazwischen aber erklingt immer wieder ein leiser, straffer Marsch, der schon im 1. Akt zum Text „Die Geister vom Montmartre, die geben keine Ruh“ den Sog der Pariser Nächte beschwört. Auch auf der Bühne sind die Liebenden mit sich und ihren Gedanken kaum allein. Ab dem 2. Akt hält immer wieder vergnügte, aber auch blasierte, lüsterne und unheimliche Gesellschaft Einzug. Auffällig ist auch, wie wenig Lehár in „Eva“ auf süffig-leidenschaftlichen Streicherklang setzt und wie sehr stattdessen delikate und flinke Holzbläser-Partien das Klangbild prägen. Manchmal tönt es aus dem Orchestergraben, als würde eine einzige große Spieluhr ein übergroßes Puppenspiel begleiten – Klang gewordene Operettenmechanik! Die Regie knüpft hier ironisch an: In ihrem Pariser Duett agieren Eva und Pepita wie zwei dressierte Pudel, bevor sie in der letzten Strophe den Spieß umdrehen und den zufällig noch anwesenden Chronisten Prunelles an die Leine nehmen.
Die Delikatesse von Lehárs Musik lässt sich auch auf den anfänglichen Schauplatz der Glasfabrik beziehen: „Glück und Glas – wie leicht bricht das“, heißt es im ersten Akt, und natürlich stößt der großspurige Flaubert gleich einmal gegen einen der frisch gepackten Glaskartons. Statt der schlichten Fabrikwand stellt Bühnenbildner Jochen Schmitt für den zweiten Akt eine geschlossene und für den dritten Akte eine seitlich geöffnete Glaswand auf die Bühne. Damit verweist er auf eine weitere symbolische Dimension von Glas. Anders als im 18. Jahrhundert ist das Treibend der Herrschenden öffentlich und durchschaubar, ist auch das Sich-Zur-Schau-Stellen zur Leidenschaft einer ganzen Gesellschaft geworden. Wirklich durchlässig sind die Wände aber nicht geworden. Wie Larrousse und die Arbeiter Evas Schicksal im 3. Akt nur noch hinter Glas verfolgen, gibt ein eindringliches Bild ab. Hart kontrastiert die Operettenwelt mit der sozialen Realität.
Aber auch das Happy End vor der Glaswand, das im Falle von Dagobert und Pepita ironisch über die Frage der finanziellen Versorgung herbeikonstruiert wird, ist bei Eva und Octave mehr als bloß schöner Schein. Erst muss sich der zerknirschte Fabrikant von der erbosten Eva seine eigenen Schmeicheleien vorsingen lassen, und erst muss sie sich nach dem Traumbild der verstorbenen Mutter schminken, frisieren und kleiden, bis es die beiden noch einmal mit einander versuchen können. Denn erst wenn man seinen Traum verstanden und durchschaut hat, ist man ihm nicht mehr ausgeliefert. So verstanden, passt auch Lehár passgenau noch ins Medienzeitalter.