1922 drehte der große, heute fast vergessene dänische Filmregisseur Carl Theodor Dreyer in Berlin den Stummfilm „Die Gezeichneten“. 2007 gelang es dem Dänischen Filminstitut, den verlorenen Streifen weitgehend zu rekonstruieren. 2009 wurde er in dieser Form vom Fernsehsender Arte ausgestrahlt – mit einer neu komponierten Begleitmusik des Mainzer Komponisten Bernd Thewes. Eine Live-Version dieser Musik zum Film wurde nun in Mainz in der Reihe „Avance“ uraufgeführt.
Eng und stickig ist es im kleinen Veranstaltungssaal des Landesmusikrates Rheinland-Pfalz im DGB-Haus in der Kaiserstraße, und ein großer Teil des Publikums hat zwar die Leinwand im Blick, nicht aber die Instrumentalistinnen vom Ensemble TEMA. Doch alle harren wie gebannt auf ihren Plätzen aus. Der Faszination dieses filmisch-musikalischen Doppelereignisses kann man sich kaum entziehen.
Dreyers Film „Die Gezeichneten“ behandelt das Schicksal des jüdischen Mädchens Hanna-Liebe und ihrer Familie aus einer russischen Kleinstadt vor dem Hintergrund der revolutionären Unruhen und Pogrome des Jahres 1905. Der Regisseur hat 1921 mit russischen Flüchtlingen in Berlin gedreht, dabei auch viele Gespräche mit ihnen geführt, dazu Fotografien und Bücher studiert. So atmen die Landschaftsaufnahmen, die Genre- und Massenszenen eine ungewöhnliche Authentizität. Zugleich entfaltet sich ein beklemmendes Szenario von Aufgeregtheit, Fanatismus und Rassenhass, das schon auf kommende Exzesse vorausweist.
Da ist Fenja, der Nachbarjunge, der mit Hanna spielt, sie aber später in der Schule denunziert, um eine eigene Liebesaffäre zu verbergen, und sie am Ende zu vergewaltigen versucht. Gerettet wird Hanna von ihrem Freund, dem revolutionären Studenten Sascha, der eigentlich als Selbstmordattentäter in die Geschichte eingehen wollte, bevor der Geheimagent Rylowitsch die Gruppe auffliegen ließ. Rylowitsch lenkt dann in der Tarnung eines christlichen Wandermönchs den Unmut der Bevölkerung gegen die Juden. Da ist schließlich Jakow, Hannas zum Christentum konvertierter Bruder, der in St. Petersburg zum erfolgreichen Anwalt aufgestiegen ist, aber dann ans Sterbebett der Mutter zurückkehrt und selbst dem Pogrom zum Opfer fällt.
Bernd Thewes hat seine Beleitmusik für Flöte, Violoncello, Klavier und Mehrkanal-Sequenzer für die Live-Uraufführung bearbeitet und den Sequenzer durch ein Akkordeon ersetzt. Das Resultat überzeugt: Eve Cambreling (Flöte), Paula Valpola (Violoncello), Andrea Carola Kiefer (Akkordeon) und Olga Zheltikova (Klavier) sind – in wechselnden Kombinationen – fast 100 Minuten lang ständig beschäftigt. Unerbittlich fließt die Musik und erzeugt einen dramatischen Sog, der über alle Brüche und Episoden der verzweigten Handlung und über die ungewöhnlichen langen Zwischentitel hinwegträgt.
Thewes Musik verzichtet auf düsteres Grummeln und erregtes Aufpeitschen. Sie untermalt nicht, sondern folgt ihren eigenen kompositorischen Regeln. Dennoch berührt sie sich immer wieder mit Struktur und Aussage des Films. Beim kleinstädtisch-ländlichen Milieu klingt russische und jüdische Folklore an. Für die Welt des aufgeklärten Bürgertums in St. Petersburg wählt Thewes einen freitonalen, konzertierenden Stil. Die Welt der jungen Revolutionäre ist bestimmt durch eine Musik, die melodische und rhythmische Modelle vermeidet. Sie wirkt abstrakt. Und tatsächlich beruhen die Sympathien zwischen den jungen Kämpfern und der Landbevölkerung wohl auf einem Missverständnis.
Die politische Amnestie von 1905 feiert das Volk in Hanna-Liebes Kleinstadt mit einem patriotischen Umzug auf den Zaren, der schnell in einen brutalen Pogrom umschlägt. Hanna-Liebe überlebt als einzige ihrer Familie, gerettet von ihrem russischen Freund, dem Studenten Sascha. Thewes’ Musik bläht hier einen patriotischen Hymnus erst zu brutaler Größe auf und karikiert ihn dann. Und während in der ersten Filmhälfte die auf der Leinwand zu erblickende Pianistin im bürgerlichen Salons in St. Petersburg in der Musik ihre hörbare Entsprechung findet, verweigert der Komponist dem frenetischen Akkordeonsolo eines fanatisierten Russen schlicht den Zugang zu seiner Musik.
Am Ende reihen sich Hanna und Sascha ein in einen endlosen Strom von Flüchtlingen. Mit einer kurzen Geste des Violoncellos verstummt die Musik. Als Gefühl bleibt: Wir sind in der Gegenwart angekommen.