lm alten Rothschild-Palais am Untermainkai zu Frankfurt, dort wo am gegenüberliegenden Ufer der Kuhhirtenturm stand, in dem der Komponist in den Jahren seiner ersten Erfolge lebte, ist das Hindermith-Institut eröffnet worden. Hindemith und Frankfurt, das ist ein Kapitel langer Verbundenheit: Hier hat der Handwerkersohn aus dem nahen Hanau auf dem Hochschen Konservatorium studiert, hier hat er sich als Konzertmeister des Opernhausorchesters und als Quartett-Primarius in frühen Jahren einen Namen gemacht, hier ist er, als er nach dem letzten Kriege wieder nach. Deutschland konnte, oft zurückgekehrt, zuletzt im Spätjahr 1963, um sich von dem physischen Zusammenbruch zu kurieren, von dem er sich nicht mehr erholen konnte.
Vor 50 Jahren: In Frankfurt wurde das Hindemith-Institut eröffnet
Zwischen Frankfurt und Zürich hatte der Stiftungsrat der Hindemith-Stiftung zu entscheiden, die von der 1967 verstorbenen Witwe Gertrud testamentarisch ins Leben gerufen worden ist. Betreuung des musikalischen und literarischen Nachlasses und Ausbau des Archivs sind die Hauptaufgaben, die der Stiftung im Vermächtnis zugewiesen wurden. Das Institut in Frankfurt, das Anfang des Jahres seine Räume bezog, kommt ihnen vor allem mit der Erarbeitung einer auf etwa sechzig Bände veranschlagten kritischen Gesamtausgabe nach, deren erste Ergebnisse in Kürze vorgelegt werden. Vorträge, Konzerte, Symposien und auch Ausstellungen, von denen eine, unter anderem mit Schlemmers Bühnenentwürfen für die frühen Einakter, schon in den Institutsräumen hängt, sollen in die Öffentlichkeit wirken.
Für Hindemith zu wirken, auch aus kritischer Distanz heraus, ist in der Tat eine notwendige Aufgabe. Er ist ja gerade nicht, was der Festakt zur Institutseröffnung, selbst mit dem geschliffenen Festvortrag H. H. Stuckenschmidts, vorgespiegelt hat: ein gesicherter Klassiker, um den die Diskussion abgeschlossen ist. Daß vor zwei Jahren noch der Frankfurter Magistrat die Benennung einer Straße mit Hindemiths Namen abgelehnt hat, da er „hierorts nicht bekannt genug“ sei, ist gewiß ein Kuriosum am Rande; daß aber Prof. Ludwig Finscher, der die Gesamtausgabe verantwortet, meint, nur als Geschichte sei Hindemiths Musik noch zu verstehen, deutet schon auf das allgemein verunsicherte und gestörte Verhältnis zu diesem Komponisten hin. Sein zehnter Todestag im letzten Winter wurde mit Verlegenheit begangen oder übergangen. Adornos Strawinsky-Polemik ist längst höchstens noch historisch interessant, seine Hindemith-Hinrichtung hingegen bestimmt weitgehend noch die Ansichten über den Musiker, der, in Umkehrung des bekannten Schönberg-Wortes, von sich hätte sagen können, er sei ein Revolutionär gewesen, den man gezwungen habe, zum Konservativen zu werden.
Wie wenig umfassend abgestützt Meinungen und Wissen über Hindemith sind, zeigt schon die Tatsache, daß zahlreiche unbekannte Werke, besonders aus der Frühzeit, im Nachlaß gefunden und bisher immer noch unveröffentlicht sind. Eines von ihnen, drei effektreich gearbeitete, durchaus publikumsträchtige Gesänge für Sopran und Orchester aus dem Jahre 1917, ist jetzt in einem Sonderkonzert des Radio-Sinfonie-Orchesters Frankfurt zur Eröffnung des Hindemith-Instituts uraufgeführt worden. Gedichte von Else Lasker-Schüler und Ernst Wilhelm Lotz, die den frühen Schönberg zur Vertonung hätten reizen können, teils von sanfter Schmerzlichkeit, teils von aufkreischender expressionistischer Gebärde, sind von Hindemith in jener spätromantisch-subjektivistischen Ausdrucksmanier musikalisch illustriert worden, die er alsbald danach heftig bekämpft hat.
Nicht Mahler und der frühe Schönberg, wie man erwarten konnte, Reger eher und vor allem Strauss machen ihren Einfluß geltend in der aufrauschenden Vitalität und den maßlosen Steigerungen des gewaltigen, in einem Lied gar mit acht Hörnern bestückten Orchesters, dem an Volumen mehr als an Klangfarben abverlangt wird. Freilich, gar so rundlich und massiv, wie der recht pauschal ins volle langende Dirigent Hermann Michael und die permanent zu Brünnhilden-Stentortönen ausholende Sopranistin Brenda Roberta uns vormachten, scheinen diese Lieder doch nicht zu sein, Es gibt Momente mit gespenstisch fahlen, einen Marschrhythmus intonierenden Klarinetten beispielsweise, mit seltsam brüchiger Kombination von zwei Harfen und Holzbläsern oder mit einem insistierenden Piccoloflötenchor, der sich über ein Streicherpiano legt, die beweisen, daß Hindemith auf eine differenziertere Farbigkeit des Chromas und des Instrumentariums hinarbeitete, als sie hier erzielt wurde.
Auch Kompositionsaufträge will das neue Frankfurter Institut regelmäßig vergeben. Der erste ging an den Schweizer Klaus Huber, dessen „Turnus“ im Hindemith-Konzert des Funkhauses uraufgeführt wurde: ein Stück, in dem, ähnlich wie in Hubers Violinkonzert von 1970, anfangs aus trockenen, augedörrten Geräuschen Töne und Klang sich entwickeln. Bläser und Kontrabässe sitzen auf der Bühne, die übrigen Streicher in vier Gruppen verteilt im Raum. Gemächlich voranschreitende musikalische Prozesse kommen in Gang, wandern zwischen den Gruppen herum, verebben wieder oder werden von anderen Prozessen bekämpft und besiegt, die dann die Herrschaft übernehmen. Im zweiten Teil konstituieren sich Brucknersche Akkordblöcke, zerbersten, nehmen immer neue vergebliche Anläufe, sich zu festigen und durchzusetzen, bis diese ohnmächtige Erinnerung an die Vergangenheit des späten 19. Jahrhunderts verdrängt wird von der (wie Huber in einführenden Worten meinte) „Musik der Zukunft“: Kuckucksrufe, Vogelzwitschern, die Stimmen spielender Kinder eine friedliche, pastorale Idylle, die Atmosphäre gar nicht mehr in Musik übersetzt, sondern konkret mit dem Tonband herbeizitiert.
Man mag über diese Komposition urteilen, wie man will, daß die Hindemith-Stiftung an den intellektuell weitschweifenden, sich seine Musik grübelnden, eigensinnigen Schweizer ihren ersten Auftrag vergab, spricht für ihre offenen Intentionen. Man wußte zwar nicht, was man von Huber zu erwarten hatte, doch man wußte ja, was man nicht von ihm zu erwarten hatte: die freie Adaption Hindemithschen Musikantentums nämlich, die so ziemlich das Überflüssigste und Trostloseste wäre, das sich heute fördern ließe.
Peter Dannenberg, Neue Musikzeitung, XXIII. Jg., Nr. 5, Okt./Nov. 1974
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