[…] Ein zweites Beispiel für emanzipierten Rock: Frank Zappa. Er läßt sich von der Musik des 20. Jahrhunderts aus Europa und Amerika anregen. Von zeitgenössischer Konzertmusik, Jazz und Pop also. Vor allem von modernen Klassikern wie Igor Strawinsky, Alban Berg und Edgar Varèse.
An musikalischen Mittlern verwendet Zappa Ungewöhnliches: Alltagsgeräusche, Lärm-Instrumente wie Trillerpfeifen und Kuhglocken, gepfiffene und gesungene Musikfetzen aus Schlagern, Rock-und Kunstmusik, Imitationen von Mädchen- und Männer-Chören. Seine Musik reicht von gekonnten Arrangements vieler Stilarten über Tonband-Manipulationen bis zu Collagen des Elektronik-Rock mit Synthesizer unter Ausnützung der Stereo-Technik. Weitere wichtige Elemente: Differenzierung der Rhythmik, Modulationen außer den normalen Klangverzerrungen, die eine Gitarre wie ein Saxophon klingen lassen und umgekehrt, musikalische Parodie. Eine notengetreue Übernahme eines Themas aus Alban Bergs „Wozzeck“ findet sich zum Beispiel in der Ouvertüre zu „200 Motels“. Es ist eines der charakteristischsten Werke Zappas. Er selbst nennt diese Ouvertüre „Semi-Fraudulent" (zu deutsch: „Halbbetrug“). Zappa parodiert die ursprüngliche Absicht dieser Musik, schlägt plötzlich in harten Rock um („Mystery Roach“). Die Ausdrucksmittel des Rock, z. B. shout-Gesang, werden hier auf die Spitze getrieben. Auch der Einbezug konzertanter Musik äußert sich im Gesang. Eine an Musik-Institutionen ausgebildete Stimme, Kulturgesang also, wird scharf kontrastiert mit Rock-Gesang.
Vor 50 Jahren – Rock als kosmopolitischer Katalysator
Zappas Gruppe, The Mothers of Invention, integriert sich bei „200 Motels“ mit dem Royal Philharmonic Orchestra zum Rock-Orchester. Notiert werden sowohl einfache Rock-Melodien, wie auch eine bis zu 34 Notenzeilen umfassende Partitur, die nur lesen kann, der Musik studiert hat. (Zappa: „does this sort of life look interesting to you?“) Bei Zappa wird elektronische Rock Musik zum Katalysator moderner und alter Musik. Seine Ideen aus einem reichhaltigen Fundus an Einflüssen, Erfahrungen und Vorstellungen reiht er nicht zufällig aneinander, entwickelt dabei auch keinen Gigantismus, sondern er arrangiert seine Musik mit Phantasie und Sinn für Humor. Zappa stellte von Anfang an für seine Musik den Kunstanspruch, Das ist kein Scherz des häufig als Satiriker auftretenden Komponisten, Er ist mit seinen originellen Einfällen und kompositorischen Fähigkeiten in der Geschichte der Rock-und Pop-Musik nicht nur stilprägend geworden, er bewies daneben in der Tat wie kaum ein anderer, daß man sich hier durchaus sinnvoll verwirklichen kann. […]
Raoul Hoffmann, Neue Musikzeitung, XXIII. Jg., Nr. 3, Juni/Juli 1974