„… was die Echo-Verleiher sagen, ist: eine Diskussion über dieses Thema beschädigt den Preis! Und da muss ich jetzt wirklich mal sagen, nach x Jahrzehnten der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und nach einem unglaublichen Erfahrungsschatz im Umgang mit solchen Fragen, ist das mit das Erbärmlichste, was ich seit langer Zeit gehört habe!“
Worüber sich der „Spiegel“-Redakteur Tobias Rapp im Interview mit Deutschlandfunk Kultur aufregte, war allerdings nicht die Pressemitteilung des Bundesverbands Musikindustrie (BVMI) vom 25. April 2018, es werde den ECHO fortan nicht mehr geben, weil „man keinesfalls wolle, dass dieser Musikpreis als Plattform für Antisemitismus, Frauenverachtung, Homophobie oder Gewaltverharmlosung wahrgenommen wird“, denn „die Marke ECHO sei so stark beschädigt worden, dass ein vollständiger Neuanfang notwendig sei“. Vielmehr richtete sich Rapps Zorn gegen jenes Statement, mit dem Florian Drücke, Geschäftsführer des BVMI, am 7. März 2013 die Rücknahme der Nominierung der Band Frei.Wild vom ECHO 2013 begründet hatte: „Um zu verhindern, dass der ECHO zum Schauplatz einer öffentlichen Debatte um das Thema der politischen Gesinnung wird, hat sich der Vorstand nach intensiven Diskussionen dazu entschlossen, in die Regularien des Preises einzugreifen und die Band Frei.Wild von der Liste der Nominierten zu nehmen.“
Genau eine solche Debatte hätte aber schon vor fünf Jahren öffentlich geführt werden müssen, und die erste Frage hätte lauten müssen, ob die vorgebliche oder tatsächliche „politische Gesinnung“ der Band Frei.Wild das eigentliche Problem ist. Stattdessen rief der BVMI einen „Beirat“ ein und wich damit nicht nur dieser Frage aus, sondern vermied zugleich eine zweite Frage, die – wiederum vor fünf Jahren bereits – hätte lauten müssen, inwiefern sich Ethik und Moral einerseits mit dem schonungslos martkradikalen Kriterium nackter Verkaufszahlen andererseits in Einklang bringen lassen könnten. Zwar wäre es dem Beirat nach §5, Absatz 2 der „Geschäfts- und Verfahrensordnung des ECHO-Beirats für den ‚ECHO – Deutscher Musikpreis‘ des BVMI in der Fassung vom 27. August 2013“ recht problemlos möglich gewesen, das in der Kategorie „Album des Jahres“ nominierte Album „JBG3“ der beiden Deutsch-/Gangster-/Battlerapper Kollegah und Farid Bang von der Nominierungsliste zu streichen, denn spätestens der dort geregelte „Anhaltspunkt“, Songs, die „Menschen, die sterben oder schweren körperlichen oder seelischen Leiden ausgesetzt sind oder waren, in einer die Menschenwürde verletzenden Weise verunglimpfen“, sprächen gegen eine Nominierung, ist mit der inzwischen zu zweifelhafter Bekanntheit gelangten Textzeile der „definierten Körper“ zweifellos erfüllt.
Mediale Aufmerksamkeit zählt
Allein, was hätte eine dementsprechende Streichung des Albums von der Nominierungsliste gebracht? Zugegeben, es wäre ein deutliches Zeichen gewesen, dass sogar der BVMI anerkennt, dass Menschenwürde hier zugunsten marktradikaler Verkaufserfolge preisgegeben wird. Zugleich hätte ein solches Zeichen jedoch bedeutet, dass sich der BVMI gegen seine eigene musikindustrielle Verwertungslogik hätte stellen müssen; der eigentliche „Skandal“, der in all den Debatten um Moral, um Grenzen von Kunstfreiheit, um Antisemitismus und Rassismus, um in klingende Münze umgesetzte Menschenverachtung, vollkommen unter die Räder gekommen ist, ist doch, dass ein Majorlabel wie die Bertelsmann Music Group das Album „JBG3“ überhaupt finanziert und promotet und die Verträge mit Kollegah und Farid Bang erst nach langem Zögern und streckenweise wahrlich würdelosen „Befriedungsversuchen“ aufgekündigt hat.
Der Beirat des BVMI wiederum konnte in diesem Spiel nur verlieren, weil die zentrale Währung innerhalb der musikindustriellen Wertschöpfungskette die der „medialen Aufmerksamkeit“ ist, nicht etwa Euro oder US-Dollar. Ganz gleich, wie der Beirat entschieden hätte, die Währung „mediale Aufmerksamkeit“ hätte er nach allen Regeln verwertungslogischer Kapitalkunst so oder so bedient. Dass der ECHO als Preis mittlerweile Geschichte ist, weil „die Marke ECHO […] beschädigt“ ist, ist für das bundesdeutsche Musikleben sicher kein allzu großer Verlust, es gibt allerdings auch keinerlei Anlass, sich darauf nun auszuruhen, und das nicht nur, weil der angekündigte Neuanfang, bei dem „möglichst viele Ideen und Erwartungen aus der Branche [!]“ berücksichtigt werden sollen, eher skeptisch denn optimistisch stimmt. Vielmehr ist bei sämtlichen ECHO- und anderen „Skandalen“, sowohl aus gesellschaftspolitischer als auch aus musikwissenschaftlicher Perspektive, ein zentraler Aspekt bislang fast gänzlich außer Acht gelassen worden: das eigentliche Problem heißt weder Frei.Wild noch Kollegah oder Farid Bang. Die sind letzten Endes austauschbar und lediglich Symptome für ein Problem, das ich vor Jahren als „Sarrazinisierung des Pop“ zu fassen versucht habe.
Verstanden als kulturelles Handeln, ist Musik notwendiger Ausdruck (nicht Spiegel!) der je aktuellen Verfasstheit einer gegebenen Gesellschaft, so dass sich das komplette Repertoire an Einstellungen und Haltungen der diese Gesellschaft bestimmenden Individuen zwangsläufig auch in der Musik ausdrückt, die diese Gesellschaft macht. Nun mag ein solcher Musikbegriff weder jenen behagen, die Musik gerne essenzialistisch als etwas den Menschen Äußeres, von Gott oder sonstwem Gegebenes begreifen wollen, noch jenen, denen aus irgendwelchen Gründen die Bestimmung von Musik als Kunst „sui generis“ wichtig ist und die nach wie vor am „musikalischen Kunstwerk“ als Gegenstand der Musikwissenschaft festhalten möchten. Es ist hier notgedrungen nicht genügend Raum, genauer zu begründen, wieso ein essenzialistischer Musikbegriff bestenfalls voraufklärerisch ist und ein „Musik ist Kunst“-Begriff alle Musik, die nicht Kunst sein will oder soll, dem Gegenstandsbereich der Musikwissenschaft ohne Not entzieht. Beide Perspektiven jedenfalls helfen nicht weiter, wenn es darum geht, eine musikwissenschaftliche Position hinsichtlich der Artikulation rechter, rechtsextremer oder anderweitig menschenverachtender Einstellungen und Haltungen in, durch und mit Musik zu entwickeln. Dazu braucht es schlechterdings eine Verschiebung der Perspektive auf einen Musikbegriff, der Musik als kulturelles Handeln versteht und nicht danach fragt, was diese oder jene Musik ist oder sein solle, sondern vielmehr fragt, was Menschen mit und durch diese(r) oder jene(r) Musik tun und wie Menschen mit und durch diese(r) oder jene(r) Musik kulturell – und damit nolens volens auch gesellschaftlich – handeln.
Frei.Wild
Es war bemerkenswerterweise nicht die innere Einsicht des BVMI, die letztendlich dazu geführt hatte, dass Frei.Wild 2013 von der Nominierungsliste des ECHO-Pop gestrichen wurde, sondern eine zuvor in der medialen Öffentlichkeit geführte Debatte um die politische Positionierung der Band, die in einigen ihrer prominentesten und beliebtesten Songs ein – vorsichtig formuliert – völkisches Blut- und Boden-Denken hinsichtlich der Bestimmung ihres Heimat- und Volksbegriffs artikulieren. Dieses ist zwar nicht explizit als rechtsextrem zu qualifizieren, es reproduziert aber doch wenigstens rechtspopulistische (treffender wäre hier eigentlich „nativistische“) Ideologeme, indem klassisch populistisch fortwährend Oppositionsbildungen zwischen „einfachem Volk“ und „Establishment“ konstruiert werden. Dabei bestimmt „das Volk“ sich in den einschlägigen Texten von Frei.Wild stets über genealogische Verwandtschaftsverhältnisse (ständig ist von Vätern und Söhnen oder Ahnen und Erben die Rede).
Auslöser dieser Debatte war ein Auftritt des Undercoverjournalisten Thomas Kuban in der ARD-Talkshow „Günther Jauch“ am 28. Oktober 2012, bei dem Kuban Frei.Wild als nachgerade klassische Vertreter von RechtsRock bezeichnete. Mit dieser öffentlichen Markierung von Frei.Wild als RechtsRockband setzte Kuban eine mediale Aufmerksamkeitsökonomie in Gang, die der Band bis heute nutzt und die die Band mittlerweile auch nachgerade virtuos weiter bedient, indem sie sich fortwährend als Opfer von „Gutmenschen“ und „Moralaposteln“, als Verfolgte einer linksrotgrünversifften Meinungsdiktatur und – in wiederum klassisch populistischer Robin-Hood-Manier – als Vollstrecker eines angenommenen Volkswillens inszeniert. Damit scheint die Band sich auf den ersten Blick als geradezu ideale Hausband der (2013 gegründeten) AfD anzubieten, die zunächst „nur“ marktradikal-liberal ausgerichtet schien, sich in den vergangenen Jahren jedoch sukzessive rechtspopulistisch und in immer größeren Teilen auch selbst rechtsextrem radikalisiert hat und ebenfalls ausgesprochen virtuos in der Währung „mediale Aufmerksamkeit“ zu handeln versteht.
Allerdings hat sich Frei.Wild im August 2015 derart eindeutig von AfD und Pegida distanziert („Ihr seid Scheiße und diese Scheiße werden wir nicht zulassen, nicht bei uns und nicht mit dieser Band!!!“), dass die Band – aller inhaltlichen Schnittmengen zum Trotz – dann eben doch nicht so einfach als „Soundtrack“ für AfD oder Pegida taugt. Es ist ohnehin bemerkenswert, dass zumindest der institutionalisierte Rechtspopulismus in Deutschland die erste politische Bewegung der Bundesrepublik seit Mitte der 1960er-Jahre ist, die ohne eigenen „Soundtrack“ oder gar eine eigene Musikszene auszukommen scheint. Zwar wird bei den Pegida-Aufmärschen in Dresden allerlei Musik gespielt, eine irgendwie gestaltete Systematik ist dabei aber nach wie vor nicht erkennbar. Die AfD fällt in ihrer Außendarstellung sogar noch dahinter zurück. Außer dem regelmäßigen Absingen der deutschen Nationalhymne und einer ausgesprochen vage gehaltenen Erwähnung von Musik als „Teil der deutschen Leitkultur“ im Grundsatzprogramm der Partei von 2016 kommt die AfD selbst erstaunlich unmusikalisch daher.
Die enthemmte Mitte
Das Fehlen eines „eigenen“ rechtspopulistischen Soundtracks liegt nun einerseits wohl darin begründet, dass Rechtspopulismus im politikwissenschaftlichen Sinne über keine erkennbare einheitliche politische Programmatik verfügt, die inhaltliche Anknüpfungspunkte für deren Umsetzung in Popsongs anbieten würde. Es muss primär als Modus politischen Handelns, nicht als politisch begründete und begründbare Agenda verstanden werden. Andererseits ermöglicht genau dieses Charakteristikum dem „Modus des Rechtspopulismus“, situativ flexibel dann auf popmusikalische Angebote aus dem Mainstream der radikalen Mitte zurückzugreifen, wenn es ideologisch und/oder strategisch gerade passend scheint, um erneut „mediale Aufmerksamkeit“ zu generieren. Das entsprechende Angebot ist jedenfalls vorhanden, seien es die von Xavier Naidoo und den Söhnen Mannheims im Frühjahr 2017 artikulierten Verschwörungstheorien, nach denen hinter allem Übel der Welt mächtige Strippenzieher respektive Marionettenspieler stünden, sei es der – von der medialen Öffentlichkeit bislang glücklicherweise eher wenig beachtete – Song „Willkommen liebe Mörder“ von Heinz Rudolf Kunze aus dem Sommer 2014, bei dem angeblich „das berühmte Theaterstück ,Biedermann und die Brandstifter‘ von Max Frisch Pate stand“ und das „auf ironische Weise die Mörder der NSU“ ansprechen soll.
Allerdings bietet der Song keinerlei Hinweise auf möglicherweise ironische Sollbruchstellen an, sondern lässt sich sehr einfach und sehr eindeutig als Kunzes Kommentar zu geflüchteten Menschen aus dem Nahen Osten lesen, was im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise von etlichen Pegidas auch begeistert getan wurde. Kunzes Eingeständnis („der sehr provokante Titel ‚Willkommen liebe Mörder‘ war ein Spiel mit dem Feuer. Und dieses Spiel habe ich verloren“), das er 2016 im Tagesspiegel lapidar verlautbaren ließ, ist da nicht nur gleichermaßen überheblich wie wohlfeil, sondern wird zweieinhalb Fragen später noch mit der Aufforderung verknüpft, „Flüchtlinge, die sich nicht an die Spielregeln halten, konsequent abzuschieben“. Doch auch für Rechtsextremismus hat Kunze eine ebenso einfache, wie sein erschreckendes Weltbild offenbarende Lösung parat: „Die vernünftige Mitte wird bombardiert von den extremen Rändern und ist stark gefährdet. Man muss sich große Sorgen machen, wenn die große Mehrheit nicht endlich aufwacht und sich wehrt“, verkündete er am 7. Mai 2018 im Deutschlandfunk Kultur.
Es sind also gar nicht die „Deutschen Zustände“, die Wilhelm Heitmeyer in seiner gleichnamigen Langzeitstudie offengelegt hat und die von Oliver Decker und Elmar Brähler in etlichen weiteren Mittestudien als „enthemmte Mitte“ bestätigt wurden, denen allen gemeinsam ist, dass die komplette Palette an Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit über die (mindestens) vergangenen zwanzig Jahre ausgesprochen stabil bei gut 25 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung nachzuweisen ist und bei einzelnen „items“ eher zu- als abgenommen hat, „die Mitte“ politisch mithin nach rechts gerückt ist. Nein, es sind „die extremen Ränder“, die diese – aktenkundig nach rechts gerückte – Mitte „bombardieren“. Sprache kann zuweilen ganz schön entlarvend sein …
Es mag Heinz Rudolf Kunze nicht bewusst sein, aber in seinem „Mittenextremismus“ trifft er sich in bemerkenswerter Weise mit (ausgerechnet) Frei.Wild, die in ihrer fortwährenden öffentlichen Distanzierung von Rechtsextremismus nie vergessen, sich zugleich von dem zu distanzieren, was die Band unter Linksextremismus versteht. Keine andere deutschsprachige Band hat das Prinzip rechtspopulistischer Aufmerksamkeitsökonomie – inszenierter Tabubruch nach rechts, Erzeugung medialer Aufregung, Selbstviktimisierung als „verfolgte Opfer“ sogenannter Gutmenschen, gleich den nächsten Tabubruch und/oder Aufreger hinterherschieben – derart perfekt verstanden wie Frei.Wild. Und doch ist Frei.Wild, anders als von Thomas Kuban seinerzeit behauptet, keine RechtsRockband!
Musik der extremen Rechten
RechtsRock ist „ein von der organisierten extrem rechten Politik zu unterscheidendes kulturpolitisches Spektrum, das nach den gängigen Mechanismen jugendkultureller Selbstorganisation funktioniert“, wie es bei Jan Raabe und Christian Dornbusch vollkommen richtig heißt. Damit ist RechtsRock allerdings kein musik-, sondern ein sozial- beziehungsweise politikwissenschaftlicher Begriff, der sich explizit auf Musik der extremen Rechten bezieht. Politikwissenschaftlich gängigen Definitionen zufolge ist Rechtsextremismus begrifflich nur so vernünftig in den Griff zu bekommen, dass darunter ein ganzes Bündel an (menschenfeindlichen) Einstellungen und Haltungen zu subsumieren ist. Diese fügen sich überdies zu einem (wenigstens einigermaßen) geschlossenen Weltbild zusammen. Weder ist Antisemitismus ein Alleinstellungsmerkmal der extremen Rechten, noch gilt dies für Rassismus, beide lassen sich in weit größeren als „nur“ rechtsextremen Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft nachweisen. Von einem geschlossen rechtsextremen Weltbild kann bei Frei.Wild allerdings keine Rede sein, hier lag Thomas Kuban sachlich schlicht falsch, was der medialen Aufmerksamkeit sowohl für Frei.Wild als auch für Kubans (leider ausgesprochen reißerisch inszenierten) Dokumentarfilm „Blut muss fließen“ im Nachgang jedoch keinen Abbruch tat.
Soviel Wirbel es seit 2013 in der medialen Öffentlichkeit um den ECHO gab, so ruhig schienen die Dinge lange Zeit, wenn es um RechtsRock ging. Mit zunehmender zivilgesellschaftlicher und ordnungspolitischer Repression gegenüber der RechtsRockszene während der späten 1990er-Jahre veranstalteten einschlägige RechtsRocker ihre Konzerte ausschließlich konspirativ, so dass lediglich ein paar unermüdliche Antifaschisten/-innen und dann und wann auch Verfassungsschutzbehörden davon Notiz nahmen. Auch CDs von RechtsRock-Bands wurden meist schneller verboten (wegen strafrechtlich relevanter Inhalte) oder indiziert (wegen Jugendgefährdung) als verkauft, ansonsten nahm die mediale Öffentlichkeit jedoch kaum Notiz vom extrem rechten Musikleben in der Bundesrepublik. Zwar gelang der NPD 2004 ein medialer Coup, indem die Partei im Zuge des sächsischen Landtagswahlkampfs 2004 mit der ersten Ausgabe ihrer sogenannten Schulhof-CD an die Öffentlichkeit ging. Umgehend waren Eltern, Schulen, Jugendschützer, zivilgesellschaftliche Organisationen und auch die mediale Öffentlichkeit in Alarm versetzt, weil sowohl diese als auch die nachfolgenden Schulhof-CDs gegen alle Vernunft als unmittelbare Bedrohung unschuldiger Kinderseelen, die der „Einstiegsdroge Musik“ machtlos ausgeliefert seien, eingeschätzt wurden. Im Gegensatz zu der sich seitdem hartnäckig haltenden, weder musikpsychologisch noch sozialpädagogisch allerdings legitimierbaren Denkfigur der „Einstiegsdroge Musik“ (dazu gleich noch mehr) versandete das mediale Interesse am extrem rechten Musikleben aber wieder recht schnell.
Politische Versammlung als juristische Finte
Selbst größere Events wie der seit 2002 regelmäßig organisierte „Tag der nationalen Jugend“ oder das seit 2003 ebenso regelmäßig stattfindendende „Rock für Deutschland“, bei denen sich in Spitzenzeiten durchaus auch bis zu 1.000 extrem Rechte einfanden, wurden kaum beachtet. Das änderte sich frühestens im Herbst 2016, als im schweizerischen Örtchen Unterwasser etwa 5.000 Nazis ein – nach wie vor konspirativ organisiertes – RechtsRockfestival besuchten, spätestens jedoch am 15. Juli 2017 mit dem im südthüringischen Themar und dieses Mal bereits im Vorfeld öffentlich beworbenen „Rock gegen Überfremdung II“, an dem etwa 6.000 Rechtsextreme teilnahmen (und zu späterer Stunde auch noch kräftig „abhitlerten“, ohne zu befürchten, dass die zahlenmäßig hoffnungslos unterlegenen Polizeikräfte vor Ort eingreifen würden).
Möglich wurde diese öffentliche Zurschaustellung der (angenommenen) eigenen Macht durch eine juristische Finte, auf die die extreme Rechte interessanterweise erst jetzt aufmerksam geworden war: Das Fes-tival wurde als politische Versammlung deklariert, die sich nach Artikel 8 des deutschen Grundgesetzes nicht ohne größeren und juristisch heiklen Aufwand verbieten lässt. Ordnungsgemäß wechselten sich an diesem Abend also RechtsRock-Bands mit politischen Redebeiträgen ab und das „Muster Themar I“ entwickelte sich seitdem, beziehungsweise entwickelt sich noch zu einem regelrechten Erfolgsmodell öffentlichkeitswirksamer RechtsRock-Festivals: Zwei Wochen später ging wiederum in Themar (Themar II) am 29. Juli 2017 das Festival „Rock gegen Überfremdung II“ mit etwa 1.200 Besucher/-innen über die Bühne, am 28. Oktober 2017 (Themar III) dann „Rock gegen Links“, wiederum mit etwa 1.200 Besucher/-innen, am 20./21. April 2018 veranstaltete explizit die NPD das gleich zweitägige Festival „Schild und Schwert“ im nordostsächsischen Ostritz.
RechtsRock ist allerdings keine (!) „Einstiegsdroge“ in die extreme Rechte! Aus musikpsychologischer Perspektive „wirkt“ Musik nicht nach derlei reduktionistischen Ursache-Wirkungs-Prinzipien, auch wenn derlei zweifelhafte Studien immer mal wieder durch verschiedene Medien geis-tern. Aus sozialpädagogischer Perspektive wiederum gestalten sich entsprechende Einstiegsprozesse weitaus komplexer und hängen in allererster Linie von einstellungsmäßigen Dispositionen im sozialen Nahfeld ab, nicht von Musik. Das heißt nun nicht, dass Musik für die extreme Rechte keine Funktion hätte, im Gegenteil; hier ist jedoch unbedingt zu unterscheiden zwischen solcher, die sich nach innen und solcher, die sich nach außen richten.
Funktion nach innen
Nach innen gerichtet, dient RechtsRock der extremen Rechten erstens zur sozialen Stabilisierung. Konzerten kommt in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu. Angefangen bei der „Schnitzeljagd“, bei der sich von allerlei Handynummern und Schleusungspunkten bis zum konkreten, in aller Regel geheim gehaltenen Konzertort durchgeschlagen werden muss, über das Treffen beziehungsweise Wiedertreffen von gleichgesinnten „Kameraden“ bis hin zum gemeinsamen (Ab-)Feiern während eines Konzerts: Als gelebte und erlebte „Lebenswelt“ (nicht Erlebniswelt!) fördern Konzerte den Zusammenhalt der Szene. Tonträger hingegen bieten die Möglichkeit, sowohl die im RechtsRock artikulierten extrem rechten Einstellungen als auch die „Lebenswelt“ ins individuelle Privatleben daheim überführen zu können. Als solchermaßen vollzogene Teilhabe an einer „imagined community“ wirkt diese Form der Einbindung von RechtsRock in den individuellen Alltag ebenfalls sozial stabilisierend.
Zweitens dient RechtsRock selbstverständlich auch der szeneinternen Vernetzung, wobei insbesondere zahlenmäßig große RechtsRock-Konzerte ideale Vernetzungsmöglichkeiten auf überregionaler Ebene bis hin zum Knüpfen europa- oder gar weltweiter Kontakte bieten.
Drittens werden in und durch RechtsRock szeneinterne Hierarchien ausgehandelt. Dies betrifft schlichte Machtfragen ebenso wie Streitfragen in Sachen weltanschaulicher beziehungsweise politischer Strategien. Obwohl am 15. Juli 2017 in Themar sämtliche Parteien der extremen Rechten vertreten waren, stach die Partei „Der Dritte Weg“ (DDW) deutlich hervor, weil deren Mitglieder mehr oder minder uniformiert und „im Block“ auftraten, weil es einigen außerdem gelungen war, auf der Bühne zwei große Banner mit Parteilogo zu platzieren und weil DDW in der szeneinternen Nachbereitung kein gutes Haar an diesem „Sauf- und Partyfestival“ ließ. Am 18. Juli 2017 forderte Matthias Fischer, „Gebietsleiter Mitte“ bei DDW, auf der Homepage der Partei: „Raus aus der Szene – hinein in eine nationalrevolutionäre Bewegung!“. Der Hintergrund ist ein seit Jahren schwelender Streit innerhalb der extremen Rechten um die „richtige“ Strategie zur Machtergreifung, der sich auf die beiden Pole „Teilhabe am Prinzip der parlamentarischen Demokratie“ einerseits, und „Kampf auf der Straße/Kampf um die Straße“ andererseits reduzieren lässt. Zugleich sieht sich DDW als Hüter des eigentlichen Kerns des sogenannten Nationalen Widerstands, was sich die alteingesessene und nach Selbstwahrnehmung immer noch wichtigste Partei der extremen Rechten, die NPD, selbstverständlich genauso wenig bieten lassen will wie die überproportionale Präsenz von DDW in Themar. Insofern nimmt es kaum Wunder, dass spätestens nach Themar III im Oktober 2017 ein szeneinterner Überbietungswettbewerb um das größte, beste, schönste RechtsRockfestival in Gang gekommen ist, dessen vorläufiger Höhepunkt die Ankündigung eines „Rock gegen Überfremdung III“ für den 25. August 2018 irgendwo „in Mitteldeutschland“ ist, auf einem Gelände, das drei Mal so groß sei als das in Themar und Platz für 20.000 Besucher böte.
Die vierte und wohl wesentlichste Funktion von RechtsRock nach innen ist jedoch schlicht und ergreifend Geld. Mit RechtsRock wird viel Geld verdient (vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass allein beim ersten Festival in Themar etwa 200.000 Euro Gewinn erzielt wurden), wobei dieses Geld vorrangig dazu genutzt wird, „Strukturen auszubauen“, wie der rechtsextreme Aktivist Axel Schlimper beim zweiten Festival in Themar überraschend freimütig in die Kamera sagte. Hinter „Strukturen aufbauen“ verbirgt sich vorrangig die Strategie, Immobilien aufzukaufen, die dann ihrerseits für Konzerte oder parteipolitische Versammlungen genutzt werden können.
Hinter „Strukturen aufbauen“ verbirgt sich in Kombination mit dem Aspekt der Netzwerke jedoch noch etwas anderes, das sich als besonders eindrücklich, weil erschreckend, zeigt, sobald man sich das Netzwerk des NSU-Terrors vor der Folie Musik vor Augen hält: Mindestens eines der Bekennervideos des NSU ist mit dem Song „Kraft für Deutschland“ der RechtsRock-Band Noie Werte unterlegt. Nicole Schneiders, Verteidigerin von Ralf Wohlleben im Münchner NSU-Prozess, ist Anwaltskollegin von Steffen Hammer, Sänger von Noie Werte. Noie Werte ist mit dem rechtsterroristischen Netzwerk Blood & Honour aufs engste verbandelt. Der (ehemalige) sächsische B&H-Sektionschef Jan Werner soll versucht haben, dem NSU-Kerntrio Waffen zu beschaffen. Werner betrieb außerdem das RechtsRocklabel Movement Records, bei dem unter anderem Landser ihre Alben verlegten. Über Jan Werner lassen sich jedoch auch Verbindungen zur europäischen Hammerskin-Szene nachverfolgen; Kopf des „Chapters Westmark“ der Hammerskins ist wiederum Malte Redeker, der mit seiner „Gjallarhorn Klangschmiede“ in Ludwigshafen eines der zentralen RechtsRock-Labels betreibt. Es ist zwar nicht zu entscheiden, inwiefern im Song „Döner Killer“ von Gigi und die braunen Stadtmusikanten „Täterwissen“ offenbart wird, dass der Song aber ein Jahr vor der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios veröffentlicht wurde, ist allemal bemerkenswert.
Diese kurze (und eher unvollständige) Auflistung zeigt, dass RechtsRock weit mehr als eine abenteuerliche „Erlebniswelt“ für extreme Rechte ist, sondern in letzter Konsequenz auch helfen kann, Menschen zu töten.
Zurück zum ECHO
Nach außen wiederum hat RechtsRock zwei wesentliche Funktionen, die miteinander verschränkt sind und dann auch wieder zur ECHO-Debatte zurückführen: „Genau wie eine große Demonstration, ist ja auch ein großes Festival ein Zeichen nach außen“, hat Michael „Lunikoff“ Regener, einer der prominentesten RechtsRock-Stars gerade dieser Tage in der extrem rechten Zeitschrift „N.S. heute“ (#8, März/April 2018) festgestellt, und genau darum geht es tatsächlich: um mediale Aufmerksamkeit, durch die die ansonsten sich vom verhassten „System“ tunlichst distanzierende extreme Rechte eben diesem „System“ zeigen kann, dass sie nicht nur immer noch da, sondern auch zunehmend aktiv und relevant ist.
Gerade durch die öffentlich angekündigten, beworbenen und durchgeführten großen RechtsRock-Festivals verfolgt die extreme Rechte eine gleichsam doppelte Strategie der Raumnahme, indem sie einerseits in Themar oder Ostritz ganz konkrete öffentliche Räume besetzt, indem sie andererseits aber auch den Raum medialer Öffentlichkeit besetzt und so letztendlich auch versucht, den öffentlichen Diskurs wenn schon nicht zu bestimmen, so doch wenigstens zu beeinflussen. Diese Strategie erinnert unweigerlich an jene der sogenannten „neuen Rechten“ der Identitären Bewegung oder des Instituts für Staatspolitik eines Götz Kubitschek. Über ihn hat mittlerweile fast jedes größere Printmedium der Bundesrepublik eine eigene „Homestory“ mit Ziegen abgedruckt, ohne jedoch offenbar sonderlich intensiv darüber nachzudenken, dass Kubitschek derlei Bühnen nur allzu gut zur Darstellung seiner Person und seiner (extrem rechten) Einstellungen zu nutzen versteht. Wie „gut“ Kubitscheks Strategie öffentlicher Raumnahme aufgeht, lässt sich nicht zuletzt an den beiden vergangenen Buchmessen ablesen, bei denen er mit seinem Verlag Antaios mit einem Stand vertreten war und die öffentliche Debatte um seine Anwesenheit auf den Messen im Handumdrehen in eine Grundsatzdebatte um Meinungsfreiheit umzulenken wusste, in deren Kielwasser dann auch so menschenfeindliche Aktionen wie die sogenannte „Erklärung 2018“, die erschreckenderweise auch etliche Musiker/-innen unterzeichnet haben, lanciert wurden.
Dass das Grundrecht auf Meinungsfreiheit etwas anderes meint, als die Kubitscheks, Lengsfelds, Frei.Wilds, Kollegahs und allzu viele andere darunter verstehen, ist dann im Grunde genommen ebenso zweitrangig wie die gleichfalls verfälschende Berufung auf das Grundrecht der Kunstfreiheit im Rahmen der ECHO-Verleihungen. Das jeweilige Thema ist in der medial aufmerksamen Öffentlichkeit gesetzt und bestimmt die Debatte derart dominant, dass der an und für sich höchstnötige Blick auf die Themen, die eigentlich zu diskutieren wären, vollkommen verstellt wird. Wenn es zutrifft, dass eine gegebene Gesellschaft immer genau die Musik macht, die ihrer Verfasstheit entspricht, dann nimmt es angesichts aller soziologischen Erkenntnisse der vergangenen Jahrzehnte wenig wunder, dass in Musik die gleichen menschenfeindlichen Einstellungen und Haltungen artikuliert werden, die sich auch sonst in der bundesdeutschen Gesellschaft nachweisen lassen.
Wer dies ändern möchte, weil sie oder er sich nach wie vor am Ideal einer aufgeklärten und vernünftigen Gesellschaft, deren Menschenbild der Menschenwürde auch würdig ist, orientiert, muss diese Einstellungen als gesamtgesellschaftliches Großprojekt in Angriff nehmen und in aller Entschiedenheit bekämpfen. Nicht aus moralischer Empörung über angeblichen „Schund“ oder die angeblich „missbrauchte Muse“, sondern aus sachlich guten Gründen:
Wer RechtsRock als Einstiegsdroge verfälscht oder als Erlebniswelt verharmlost, verkennt, dass RechtsRock tötet. Wer menschenverachtende Songs, die noch nicht mal annäherungsweise Ansatzpunkte für ästhetische und/oder ironische Brechungen liefern, sondern eindeutig als menschenverachtend zu lesen sind, als Kunst verkauft, macht sich mitschuldig an der um sich greifenden menschenfeindlichen Hetze im Land. Spätestens dort, wo sich gesellschaftliches Handeln als musikalisches Handeln zeigt, ist dann auch die Musikwissenschaft gefragt. Und zwar ziemlich dringend.