Wo geht es hin mit Kultur und Musik in Deutschland? Was im technologischen und wissenschaftlichen Ambiente längst eigene Forschungsabteilungen beschäftigt, wird in der Kulturszene fast sträflich vernachlässigt: Die Beschäftigung mit der Frage, was uns in zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren erwartet, mit dem Ziel, schon heute Handlungsmodelle für verschiedene Zukunfts-Szenarien entwickeln zu können.
Vor einigen Jahren hat sich eine kleine Arbeitsgruppe – unabhängig von Verbands- oder Institutions-Zugehörigkeit – mit diesen Fragen beschäftigt und einen „Foresight“-Prozess Musik initiiert. Die Ergebnisse sind noch unter www.foresight-musik.de abrufbar. Auch wenn der Prozess nicht weitergeführt werden konnte: Die Frage sollte uns – angesichts der ungewissen Zukunft, in die wir gehen werden – mehr denn je beschäftigen. Wir haben deshalb einige Persönlichkeiten aus verschiedenen Bereichen (Musikpolitik, Musikwirtschaft, Musikjournalismus etc.) befragt: Wie könnte das Musikleben im Jahr 2020 aussehen? „Aufgabe“ war es nicht, ein umfassendes Bild zu beschreiben, sondern vielmehr, im eigenen Bereich ein wenig nach vorne zu blicken. Die hier gezeichneten Szenarien sind für unsere Kultur-Gegenwart höchst aufschlussreich. Vielleicht dienen sie ja dazu, einen weiteren Prozess in Gang zu setzen, der sich mit diesen Themen beschäftigt. Unser Zukunfts-Magazin eröffnen wir mit Auszügen aus dem „Worst-case-Szenario“ von nmz-Herausgeber Theo Geißler. bh
Worst-Case-Szenario
Der Wirtschaftsraum Europa steht in scharfer Konkurrenz zu den drei starken asiatischen Wirtschaftszentren und der anglo-amerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft. Der Lebensstandard auf der Nordhalbkugel ist trotz einiger Ressourcen-Kriege und aufwändiger Zuwanderungs-Verhinderungsmaßnahmen relativ hoch. Virtuelle Arbeits- und Freizeit-Welten reduzieren den Energieaufwand für Produktion, Kommunikation und Reisen drastisch, gewähren Vollbeschäftigung. Kunst und Kultur sind teils in diese virtuellen Landschaften integriert, teils zum Bestandteil von Lifestyle, Media-Entertainment oder gelenktem Tourismus geworden.
Finanzierung des Musiklebens
Musik spielt sich als Beigabe in den Medien und bei verschiedenen öffentlichen Events ab. Die Finanzierung durch öffentliche Hände wurde aufgrund anderer Prioritäten und der bekannten Wettbewerbs-Konventionen eingestellt. Nur noch drei „Leuchttürme“ europäischer Hochkultur (samt Konzertsaal) werden durch die Wirtschaft finanziert. Die beiden konkurrierenden globalen Entertainment-Konzerne begleichen ihre Rechnungen bei den Kompo-Software-Häusern und den 61 verbliebenen IndieKompo-Companies sowie den Betreibern der Distributions-Netze pünktlich.
Musikverlage wurden samt ihren Rechten längst von den beiden Global Players übernommen, die für eine erschwingliche Schall-Versorgung in allen Lebens-Bereichen garantieren. Längst ist an die Stelle des Urheberrechtes bei wirtschaftlich absehbar unattraktiven kreativen Emanationen ein Public-Domain-Common-Sense getreten. Lukrative Schöpfungen werden durch ein zentrales, einfach automatisch gehandeltes Digital-Rights-Management wirkungsvoll verwertet.
Musikalische Bildung
Musik als einzelner Lern- oder Lehrgegenstand wurde zunächst durch medienkundliche, später durch öko- und ökonom-mediale Inhalte in allen Krippen, Kindergärten und Schulformen abgelöst. Eine Grundversorgung ist durch die omnipräsente Verfügbarkeit kostengünstiger Industriemusik gewährleistet. Die europäische Exzellenz-Musikhochschule kann ihre zwanzig Ausbildungsplätze kaum besetzen – andere Ausbildungswege mit besseren Berufs- und Erwerbs-Chancen locken. Zirka 500 verbliebene ehemalige Musikschulen werden erfolgreich als „Musik-Hospize“ auf privater Basis weiterbetrieben. Professionelle Grundlagen für die Erzeugung von Klangmustern nach Industrie-Bedarf werden über e-Learning-Bausteine vermittelt. Kleine Minderheiten geben Fähigkeiten und Fertigkeiten im Gebrauch alter (nichtelektronischer) Klangerzeuger kostenlos in privaten Fan-Zirkelchen weiter.
Kompositionen und Composer
Wie aus dem einstigen „Schmied“ 2020 ein Hardware-Assembler geworden ist, entwuchs aus dem seinerzeitigen Komponisten oder Composer der heutige Klang-Designer. Er arbeitet meist im Zeitvertrag für eines der Major-Labels und muss firm sein im Creative-Software-Controlling – (Ausbildung an der TU). Automatische Klanggenerierung im Naturton-, Electro- oder Experimental-Ambiente lässt seiner Kreativität viel Spielraum. Grenzen sind ihm nur durch Reception-Limiter gesetzt, die durch Erkenntnisse über die beliebtesten Titel der letzten hundert Jahre gesteuert werden. Damit sind die pseudoambitionierten kompositorischen Irrtümer des zwanzigsten Jahrhunderts ein für alle Mal ausgemerzt. Völlig neues, wegen seiner Authentizität fast romantisch verehrtes Klangmaterial wird aus der akustischen Naturbeobachtung gewonnen (Gesang der Wale, Knistern verdorrenden Grases, Fiepen neugeborener Pinguine, Rumpeln von Schlamm-Lawinen, Tsunami-Gedonner).
Arbeitswelt und Berufsbild
Nach dem Eingehen der symphonischen Apparate mangels Subvention, der Auflösung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der Erosion überkommener zivilgesellschaftlicher Verbandsstrukturen und der Erweiterung des vorschulischen, schulischen und universitären Bildungs-Selbstverständnisses weg vom eng kunst- und kulturzentrierten Fach- und Spartendenken hin zu einer universellen, ökonomisch und technologisch sinnvollen Gesamtschau ist das «alte» Berufsbild vom Künstler und Pädagogen obsolet. Schon 2012 wurden die meisten „berufsständischen“ Organisationen im ehemaligen Kulturbereich (Orchestervereinigung, Verbände der Musikverleger, Musikpädagogen, Instrumentenhersteller, Veranstaltungswirtschaft) mangels Masse und Interesse durch mehr oder weniger hilflose Selbstorganisationsversuche (damals noch im Web 1) abgelöst. (Reste dieses Eiferertums finden sich dort noch immer). (…)
Veranstaltungsformen
Unsere hochwertige Kommunikationstechnologie, die ein optimales Home-Feeding mit allen erdenklichen multimedialen Contents garantiert, hat Konzertsäle und Opernhäuser, sie wären nach Wegfall der staatlichen Subventionen ohnedies nicht zu halten gewesen, schmerzlos überflüssig gemacht. Die vier modernen bundesrepublikanischen Convention-Center (mit einem Fassungsvermögen von je zwei Millionen Partizipanten) sind für die Versorgung mit multimedialen und multifunktionalen Live-Events mehr als ausreichend. Die Kienbaum-Academy hat kürzlich errechnet, dass durch vereinheitlichte und verkürzte Wege dank dieser Center allein im Bundesland Deutschland drei Milliarden Workflow-Einheiten Klasse 1 und vier Kernkraftwerke eingespart wurden. Die veranstaltenden Majors und Netzwerkbetreiber sind mit der Auslastung dieser Institutionen höchst zufrieden. Bei einem kalkulierten Musikanteilsfaktor von fast fünf Prozent werden auch Shareholder mit einem soundlastigen Portfolio auf ihre Rechnung kommen. Als ausgesprochen effizient und massenwirksam haben sich die Holo-Replicas einstiger Stars (Madonna, Karajan, Callas) erwiesen. Sie lassen darauf schließen, dass das Reservoire unseres „alten“ kulturellen Erbes eine noch lang anhaltende Ressource darstellt.
Das vollständige Szenario ist auf der Webseite www.foresight-musik.de zu lesen.
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