Hauptbild
Titelseite der nmz 2024/04

Titelseite der nmz 2024/04

Banner Full-Size

Riskantes Spiel mit dem Feuer

Untertitel
Bayerns Kultusministerin will Kinder stärken – und kürzt bei der kulturellen Bildung
Vorspann / Teaser

Bayerischer und Deutscher Musikrat gehen auf die Barrikaden. Musikverbände geben Presseerklärungen ab und betreiben Meinungsbildung in den sozialen Medien. Über 200.000 Menschen unterzeichnen eine Online-Petition. Rundfunk und Printmedien berichten. Ein Kollektiv sehr prominenter Künstlerinnen und Künstler erinnert Ministerpräsident Söder und Kultusministerin Stolz „mit Nachdruck“ daran, dass Bayern laut Verfassung ein Kulturstaat sei. Die Landtagsfraktionen von SPD und Grünen stellen einen Dringlichkeitsantrag. So viel öffentliches Engagement für schulischen Musikunterricht gibt es nicht alle Tage. Aber die Unterstützung ist auch bitter nötig.

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Als Reaktion auf das schlechte Abschneiden deutscher Neuntklässler in PISA 2022 rief die bayerische Staatsregierung zu Jahresbeginn eine „PISA-Offensive Bay­ern“ aus: An den Grundschulen soll künftig durchgängig je eine Stunde mehr Deutsch unterrichtet werden, in den Klassen 1 und 3 auch mehr Mathematik. Dazu kommen verpflichtende Sprachtests und Frühförderung, wissenschaftsbasierte Diagnostik, innovative Programme zur Lese-, Zuhör- und Schreibförderung sowie zum mathematischen Denken, eine Fortbildungsoffensive und die Überarbeitung der Lehrpläne. 

Das alles ist zunächst einmal begrüßenswert. Ohne hinreichende sprachliche und mathematische Kompetenzen ist Alltagsbewältigung kaum möglich, ganz zu schweigen von vertieftem und nachhaltigem Lernen. Seit aber Ende Februar das Rahmenkonzept zur PISA-Offensive online gestellt wurde, ist klar: Die geplanten Änderungen gehen auf Kosten der kulturellen Bildung. Eine Erweiterung der Stundentafel schloss das Kultusministerium von Anfang an aus, sie wäre angesichts des gravierenden Lehrkräftemangels wohl auch kaum realisierbar. So müssen für die Zuwächse in Deutsch und Mathematik andere Fächer weichen. Kultusminis­terin Stolz machte früh und öffentlich Kürzungspotenzial beim Fach Religion aus, Ministerpräsident Markus Söder verhinderte dies durch ein ebenso öffentliches Machtwort und stellte seinerseits das Fach Englisch zur Disposition. Die für beide gesichtswahrende Lösung: „Flexibilisierung der Stundentafel“. Musik, Kunst und Werken werden dafür zu einem Fächerverbund zusammengefasst, für den in den Jahrgangsstufen 3 und 4 je 4-5 Wochenstunden vorgesehen sind. 

Was auf den ersten Blick wie eine marginale Anpassung erscheint, könnte gravierende Auswirkungen auf die musikalische Bildung von gut 272.000 Grundschulkindern haben. Die nun zusammengelegten drei Fächer wurden bisher mit einem Volumen von fünf Wochenstunden unterrichtet: zwei Stunden Musik, eine Stunde Kunst, zwei Stunden Werken. Theoretisch könnte das auch so bleiben – aber nur auf Kosten des Fachs Englisch, das dafür um je eine Stunde gekürzt werden müsste. Wenn sich eine Schule für die Beibehaltung des Englischunterrichts entscheidet, bedeutet das Einschränkungen beim ästhetischen Fächerverbund. Kunst kann allerdings gar nicht weiter gekürzt werden. Werken wird größtenteils von Fachlehrkräften erteilt, die auch in Zukunft beschäftigt werden müssen. Bleibt die Musik. 75 Prozent der bayerischen Grundschullehrkräfte haben Musik weder im Haupt- noch im Nebenfach studiert, und musikalische Aktivitäten mit großen Gruppen kleiner Kinder können durchaus anstrengend sein. Man braucht also wenig Fantasie, um sich auszumalen, welches der Fächer am häufigsten oben auf der Streichliste stehen dürfte. 

Bereits im Vorfeld der Entscheidung hatten die musikpädagogischen Fachverbände VBS (Verband bayerischer Schulmusiker), BMU (Bundesverband Musikunterricht) und DGS (Deutsche Gesellschaft für Schulmusik) eindringliche Appelle ans Ministerium gerichtet und vor Kürzungen beim Musikunterricht gewarnt. Nach der Veröffentlichung der konkreten Pläne wurde noch einmal nachgelegt, zahlreiche weitere Verbände engagierten sich. Argumentiert wurde mit Transfereffekten auf sprachliche Bildung und soziales Lernen ebenso wie mit dem genuinen Bildungsauftrag des Schulfachs Musik, mit musikalischer Teilhabe als Voraussetzung für gelingende Biografien und für ein friedvolles Zusammenleben in einer sich verändernden Gesellschaft. Die Grundschule ist die einzige Schulart in Deutschland, die praktisch alle Kinder eines Jahrgangs erreicht, und dies in einer sensiblen und prägenden Phase ihrer Lernbiografie. Die Folgen entfallenden oder schlecht erteilten Unterrichts sind später kaum mehr einholbar. Das Kultusministerium reagierte auf Appelle und Argumente mit einer Mischung aus Angriff und Beschwichtigung. Mitte März lud Amtschef Martin Wunsch die Vertreterinnen und Vertreter der protestierenden Verbände zu einem Gespräch. Über einen Austausch von Positionen kam man dabei nicht hinaus, Kritik am Prozedere wurde ebenso abgeschmettert wie inhaltliche Korrekturvorschläge. Angesichts des selbst auferlegten Zeitdrucks erscheint das auch wenig verwunderlich: Die Maßnahmen der PISA-Offensive sollen bereits zum kommenden Schuljahr in Kraft treten, entsprechend rasch muss nun die Umsetzung über die Bühne gehen. 

Klar wurde aber auch: Die Verbände werden nicht so schnell wieder zur Tagesordnung übergehen. Kinder werden nicht stärker, wenn man ihnen wichtige Bildungsangebote entzieht. Die Geschehnisse im „Kulturstaat Bayern“ werden auch in anderen Bundesländern aufmerksam verfolgt und könnten fatale Signalwirkung entfalten. Bayerns Staatsregierung spielt mit dem Feuer – auf Kosten der Kinder.

Gabriele Puffer, Vorstandsvorsitzende des Verbandes Bayerischer Schulmusiker

  • Mehr zum Thema auf den Seiten 28 (vbs) und 32 (DKV)
Ort
Print-Rubriken