Nach dem Tod von Pierre Boulez im Januar 2015 übernahm Wolfgang Rihm die künstlerische Leitung der Lucerne Festival Academy. Er implementierte dort von 2016 an das Composer Seminar. Zu den über 100 Instrumentalisten und den vier Dirigenten des Contemporary Conducting Program werden acht Komponisten für das Composer Seminar alljährlich nach Luzern zur dreiwöchigen Akademie für zeitgenössische Musik eingeladen. Zudem suchte Wolfgang Rihm zwei Komponisten für die Roche Young Commissions aus, welche er während eines zweijährigen Schaffensprozesses betreute.
„Mut schöpfen zum Eigensinn“
So auch letzten Dezember und Januar, wo Wolfgang Rihm zusammen mit Dieter Ammann aus 66 Bewerbungen für die Roche Young Commissions und 155 Bewerbungen für das Composer Seminar die jungen Komponisten für die Sommer-Akademie aussuchte. Zum 20. Geburtstag der Lucerne Festival Academy 2024 initiierte er zwei Composer Seminare: Vier Komponisten erhalten die Möglichkeit neue Stücke für Orchester zu schreiben und acht Komponisten für Ensemble.
Während dieser zwei Prozessphasen konnte ich Wolfgang hautnah erleben: Bei der Auswahl der Komponisten und beim Unterrichten. Für beide Prozesse suchte Wolfgang den Dialog. Deswegen zog er auch seinen Freund und Kollegen Dieter Ammann als Co-Leiter des Composer Seminars hinzu. Er wollte diskutieren und unsere Meinungen zu den Einsendungen erfahren. Es war wunderbar, den beiden zuzuhören. Wolfgang hatte eine eindrückliche Fähigkeit, einen gleichsam analytischen Röntgenblick, in den eingesandten Partituren sofort Qualitäten (und Schwächen) zu identifizieren. Scherzhaft nannten wir ihn unser Trüffelschwein.
Genervt haben ihn Adepten, die mit modischen Strömungen oder beflissentlichen Schulzugehörigkeiten zu trumpfen versuchten. Gesucht wurden Partituren, die originelles, persönliches Ausdrucksbedürfnis enthielten. Junge Komponisten, die nicht so viel Werke und Erfahrungen aufweisen konnten, wurden eingeladen, wenn Wolfgang ein großes Potential in ihnen sah und prognostizierte, dass gerade sie von der Arbeit im Composer Seminar profitieren würden. Wolfgang und Dieter ging es nicht darum, die besten, sondern die interessantesten Talente zu finden. Eine heterogene Gruppe von Individuen mit unterschiedlichen Musiksprachen sollte sich während der zwei Wochen bilden und im Austausch auch voneinander lernen.
Auch im Unterricht dozierte Wolfgang nie. Er stellte Fragen, wies auf etwas hin; und immer bezog er auch die Gruppe ein, wollte, dass alle sich über den Takt oder die Stelle Gedanken machen. Es ging um Technisches, um das Wie, aber auch häufig auch um das Warum. Wurde die Diskussion zu abstrakt, lenkten Wolfgang und Dieter sie stets ins Materielle. Wolfgangs Musik stand nie im Zentrum, Verweise in die Musikgeschichte machte er nur, um für einen auf dem Tisch liegenden Sachverhalt Lösungsansätze aufzuzeigen. Die Aspekte Kreation, Interpretation, Rezeption und Reflexion kamen dank Wolfgang im Composer Seminar aufs Schönste zusammen und wurden vertieft behandelt. Eine großartige Erfahrung für alle Teilnehmer*innen.
Wolfgang war ein frei und tief denkender Mensch, vollkommen undogmatisch, zudem war er äußerst sensibel und besaß eine große Empathiefähigkeit. Seine Persönlichkeit, sein Eigensinn, ist in seiner Musik spürbar. „Mut schöpfen zum Eigensinn“ war denn auch die ausgegebene Devise für das Composer Seminar.
Beides, das Komponieren und Unterrichten, machte er mit Leidenschaft, mit Haut und Haaren. Sein immenses Wissen, seine Brillanz, seine Fähigkeit, sich anderen zuzuwenden, waren außergewöhnlich und hinterlassen prägende Eindrücke. Die Zusammenarbeit mit ihm war ein Geschenk für alle. Er wird uns allen fehlen.
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