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Nachklingende Worte

Untertitel
Erinnerungen an Wolfgang Rihm
Vorspann / Teaser

Donnerstagmorgen, 10 Uhr, Villa Schönleber in Karlsruhe, gefühlt noch im Zustand als die Burschenschaft Teutonia vor hundert Jahren hier residierte. Im Dachgeschoss-Klassenzimmer hört man das immer lauter werdende Knarren des Holzbodens, langsame Schritte und die Tür öffnet sich. Im Raum wo zuvor eine erwartungsvolle, eher etwas verhaltene Stimmung herrschte, wird es auf einmal ganz still. Schweißgebadete Studentenhände verstecken sich auf den Schößen unter dem Tisch.

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Der Meister tritt ein, seine würdevolle Gestalt füllt den Raum, er legt die obligatorische Tagespresse, das Barett und einige Partituren auf den Tisch und sagt mit etwas verzerrter Miene: „Bin aus der Arbeit gerissen“. Dann hängt er kopfschüttelnd den Mantel auf, setzt sich, formt zwei Halbkugeln aus den Händen und legt so alle zehn „wurschtelige“ Fingerspitzen auf den Tisch, schaut uns an, ernsthaft aber mit Witz in den Augen und fragt: „Wer hat was gearbeitet?“ Und in diesem Moment ist er angekommen, nicht bei sich selbst: bei anderen, bei uns Schülern, in der Musik anderer, in der Kunst.

Ich habe Wolfgang Rihm in den späten 90er-Jahren kennengelernt. Sein von allen strukturalistischen Krämpfen befreites Musikdenken hat mich wie frischer Wind berührt. Ich dachte mir damals als 20-Jähriger beim Hören seiner klingenden Kraftbündel und unendlich scheinenden Steigerungsprozesse: Was für eine unbändige Energie, was für eine Architektur und Plastizität und eine, ihn stets bis zum Exzess treibende Freiheit. 

Und genau diese Freiheit hat er uns auch im Studium vermittelt. Für die Freiheit hat er jedoch klares persönliches Konzept und einen Riesenfleiß, eine überdurchschnittliche Arbeitsdynamik von uns eingefordert. Es war keine schulmeisterliche, abstrakte Fleißlehre: Wir haben ihn aus der Arbeit gerissen und die Trägheit seiner ungeheuren Arbeitsenergie hat sich auf uns übertragen. Diejenigen von uns, die diese Energie aufnehmen und weitertreiben konnten, hat er mit all seiner Kraft und Liebe nach vorne geschoben, die aber nicht mithielten, hat er fallen lassen. Er war ein warmherziger Mensch, ein Mentor, aber kein Samariter, harte und konsequente Arbeit war der Preis seines Vertrauens. Bis heute prägen mich seine knappen aber wirkmächtigen Kommentare und klingen seine Worte in meinem Ohr nach, als er über „Gestalten“, „Dichten“, „Atmende Texturen“, „Teppiche“, „Salate“, „Grauwerte“, „Zuspitzungsmomente“, „Perspektiven“, „Sequenzierungen“, „Gangarten“ und „Schattierungen“ sprach.

Wahrscheinlich ist es sein großer geistiger Reichtum und die dadurch errungene innere Ruhe, gepaart mit einer grenzenlosen Empathie, die ihn befähigten, sich vollkommen selbstlos anderen zuzuwenden und sein „Ich“ trat dann weitgehend in den Hintergrund. 

Er wollte nichts beibringen, vielleicht hat er verstanden, wie viele andere Größen, dass das auf dem Gebiet des Komponierens wenig Sinn macht. Er wollte in uns unsere eigenen Welten wachrütteln, uns vorsichtig auf unsere eigenen Wege lenken und hat dargetan, wie ein Leben in heiterer Erfüllung durch demutsvolle und unerschütterliche geistige Arbeit aufgehen kann.
Ein großer Künstler, Lehrer, Mentor und Mensch ist von uns gegangen. Ruhe in Frieden, Wolfgang Rihm!

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