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Vitae non scholae

Untertitel
Erinnerungen an Wolfgang Rihm
Vorspann / Teaser

Das Genie konnte man schon dem Elfjährigen ansehen, der Charakterkopf, die hohe Stirn, die Statur, groß und beleibt, das Dionysische. Hochbegabt, war Wolfgang Rihm früher eingeschult worden. Als ich nach Ostern am Karlsruher Bismarck-Gymnasium in die Sexta kam, war er bereits Quintaner und begann gerade mit dem Komponieren. Aus dem ältesten Lyzeum der Stadt sind schon einige Berühmtheiten hervorgegangen: So Johann Peter Hebel, der hier Schüler, Lehrer und von 1808 bis 1814 Direktor war, so Karl Freiherr von Drais und Carl Benz, die Erfinder des Fahrrads und des Automobils.

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Lange war Wolfgang Rihm in meiner Parallelklasse, doch als unser Jahrgang im Sommer 1971 Abitur machte, hatte er noch eine Klasse vor sich. Zweimal ist er, das erzählte er gern, sitzen geblieben, und war doch der Überflieger, den alle bewunderten, ja, liebten, weil er sich so gar nichts darauf einbildete und jeden anzustecken, mitzunehmen versuchte. Von 1968, da war er sechzehn, studierte er an der Hochschule für Musik, die war nur wenige hundert Meter die Straße hinunter, Komposition, nicht neben dem Gymnasium, sondern umgekehrt: der Schulunterricht lief nebenher. Das Examen legte er im gleichen Jahr wie das Abitur ab: 1972. 

Die Musik war nur eine seiner vielen Begabungen und Leidenschaften, er malte, schrieb Gedichte, philosophierte. Die anderen Fächer interessierten ihn nicht, er fehlte viel. Eine Lehrerkonferenz wurde einberufen, in der beschlossen wurde, dass die Kollegen, deren Unterricht Wolfgang ignorierte, bei der Notengebung berücksichtigen sollten, dass er nicht faul, sondern sehr einseitig begabt war. Wolfgang machte immer nur das, was er wollte, wofür er brannte, sich begeisterte. Er sang im Oratorienchor, die Neunte beim Silvesterkonzert in der Stadthalle, Penderecki-Aufnahmen in Paris, trat beim Jour fixe der jungen Literaten im Schlosshotel auf.

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In dem Altphilologen Günter Dietz, der von der Deutschen Schule in Athen zurückgekommen war, Lyrik schrieb und aus dem Neugriechischen – Seferis, Ritsos, Elytis – übersetzte, fand Wolfgang Rihm einen Mentor, der mit ihm die antike Philosophie und Mythologie durchwanderte, wovon er zeitlebens zehrte: „Günter Dietz, der betonte immer, dass jeder sein Maß selber finden müsse, dass er aber das Maß nur erfahre, indem er es einmal überschreite“, sagte Wolfgang Rihm 2013 im Gespräch mit Herlinde Koelbl: „Das auf die Kunst bezogen, ist ein goldener Weg. Und ein Satz, der meine ganze Gymnasialzeit aufwiegt.“

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