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4.000 Jahre alt: ein chinesisches Musikinstrument. Foto: von Gutzeit
4.000 Jahre alt: ein chinesisches Musikinstrument. Foto: von Gutzeit
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Musik gehört zum menschlichen Leben

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Reinhart von Gutzeits Vortrag zum Thema „Öffentliche Musikschulen – die Innensicht“
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Im Rahmen des VdM-Herbstsymposiums im November 2014, das die Weiterentwicklung von Leitbild und Grundsatzprogramm für den Verband zum Inhalt hatte, hielt Reinhart von Gutzeit einen Vortrag zum Thema: „Öffentliche Musikschulen in Deutschland – die Innensicht“. Den Text der Rede drucken wir hier – leicht gekürzt – ab. Die diesjährige VdM-Bundesversammlung in Münster wird einen Leitbildvorschlag diskutieren und voraussichtlich verabschieden, der in einem längeren Prozess entstanden ist. Reinhart von Gutzeit bezieht sich in seinem Vortrag auch auf diese Aufgabenstellung.

Vor drei Tagen bin ich aus China zurückgekehrt. Beim Besuch im Nationalmuseum in Peking fiel mir ein Instrument ins Auge – es wird zweieinhalb bis 4.000 Jahre vor Christus datiert, ein Prototyp, den Studio 49 eigentlich nur geringfügig weiterentwickelt hat …

Da mir schon ständig das Herbstsymposium des VDM durch den Kopf ging, habe ich es gleich fotografiert: als einen von tausenden von Belegen dafür, dass alle uns bekannten Kulturen, zu allen Zeiten, auf allen Kontinenten Musik gemacht und für diese schwer erklärbare, in gewisser Weise zweckfreie und doch so sinnstiftende Tätigkeit viel Mühe aufgewendet haben.

So will ich, ohne lange zu fackeln, gleich sagen: Die Musik gehört zum menschlichen Leben wie die Luft zum Atmen – und damit ist eigentlich für die Begründung unserer Arbeit schon das Wesentlichste gesagt. Oder erscheint Ihnen das zu vollmundig, zu pauschal, zu banal?

Begründungstheorien

Wir können natürlich auch ganz anders! – Was haben wir nicht alles an Begründungstheorien gesammelt und ins Feld geführt, um zu belegen, wie gut es Kindern und Jugendlichen tut, sich in ihren Entwicklungsjahren mit Musik zu beschäftigen. Immer wieder sagen wir die ganze Litanei der „Transfereffekte“ gebetsmühlenartig auf:

  • dass Leistungsfähigkeit, Konzentration und Durchhaltevermögen gefördert werden;
  • dass Musikmachen, wie Hans Günter Bastian beforscht und mit großem Medienecho „bewiesen“ hat, die Intelligenz fördert: der so genannte Mozart-Effekt;
  • dass „sonare“ klingen heißt und der junge Mensch durch das, was in ihm klingt und wie er klingt – „personare“ – zur Person, ja zur Persönlichkeit werden kann;
  • dass die linke und rechte Hirnhälfte miteinander verdrahtet, dass Kopf, Herz und Hand aktiviert und in Einklang gebracht werden;
  • dass die sinnstiftende Tätigkeit des Musizierens Kinder und Jugendliche vor manchen Gefahren bewahrt;
  • dass das Sozialverhalten im Miteinander des Musizierens geschult und der familiäre Zusammenhalt gefördert werden;
  • dass die Musik uns eine Brücke zu unserer Vergangenheit und zu den anderen Kulturen baut;
  • dass die Musikschularbeit, wenn auch auf Umwegen, sogar rentabel gerechnet werden kann;

und und und ...

Liegt es an der Musik selbst und dem berühmten „Zauber“, den sie ausübt? Oder liegt es am Prozess der Auseinandersetzung mit der Musik? Wir weisen ja gerne darauf hin, dass die besonderen Anforderungen, die einerseits mit dem Erlernen eines Instruments, andererseits mit dessen Anwendung im Ensemblespiel verbunden sind, vielfältige Schlüsselqualifikationen vermitteln und dass man wohl einen Zusammenhang herstellen darf, wenn viele, die in ihrer Jugend mit Engagement ein Ins­trument erlernt haben, später in herausragenden beruflichen Positionen zu finden sind.

Exekutive Funktionen

In letzter Zeit wird ein ähnlicher Gedanke mit dem Begriff der „Exekutiven Funktionen“ umschrieben. Dabei geht es darum, wie aus einem Gedanken ein konkreter Plan und schließlich eine konsequent umgesetzte Tat wird (Exekution) – im Einzelnen also um die Fähigkeiten,

  • Aufmerksamkeit willentlich zu fokussieren und Störreize gezielt auszublenden,
  • das Handeln bewusst zu steuern,
  • die Handlungsabläufe gedanklich zu planen und später zu reflektieren,
  • sich Ziele zu setzen und Prioritäten festzulegen,
  • im Umgang mit anderen emotionale Impulse zu kontrollieren und
  • das eigene soziale Verhalten zu reflektieren.

Natürlich stelle ich diese Theorien nicht so ausführlich dar, um sie anschließend in den Bereich der Fabel zu verweisen – nur, weil sie so schwer empirisch zu belegen sind. Und es ist mir bewusst, dass wir diese Argumente für unsere Arbeit verwenden müssen – auch, wenn sie so schwer empirisch zu belegen sind. Denn in der politischen Diskussion kann man – mit deutlich erkennbaren regionalen Unterschieden – leider nicht davon ausgehen, dass der Wert der musikalischen Bildung „an sich“ als ausreichender Grund angesehen wird, um die Musikschularbeit anständig mit öffentlichen Mitteln auszustatten.

Aber dennoch denke ich bei dieser Thematik immer mit Wehmut an meinen früheren Chef, den oberösterreichischen Landeshauptmann Josef Pühringer, zurück. Der spielte in seinen vielen Ansprachen zur Musikschularbeit virtuos auf der gesamten Klaviatur der positiven Nebenwirkungen und Umwegrentabilitäten, um dann hinzuzufügen: „Aber nicht darum finanzieren wir die Musikschulen großzügig, sondern weil wir überzeugt davon sind, dass Musikunterricht um seiner selbst willen für jedes Kind wichtig ist. Und weil wir die Wirtschaft zum Überleben, aber die Kultur zum Leben brauchen.“ Und dann donnerte er in den Saal: „Kultur ist teuer, aber Unkultur ist noch viel teurer!“

Wenn ein Regierungschef den politischen Mut hat, diese Sichtweise vehement zu vertreten, dürfen wir als die Sachwalter der Musikerziehung doch nicht zu verzagt sein, um die Sache selbst vor die damit möglicherweise verbundenen Transfereffekte zu stellen.

Musikalische Bildung

Was ist mit musikalischer Bildung konkret gemeint? Aus der speziellen Perspektive der Musikschulen betrachtet und sehr allgemein gesprochen: zur Musik hinzuführen und die Sprache der Musik zu erlernen. Zur Musik hinführen – dazu haben wir viele gute pädagogische Ansätze entwickelt (von Grundausbildung und Früherziehung bis Jeki), die auch die Aufgabe einschließen, Lücken zu füllen, die für unsere Kinder durch eine kaum noch singende Umwelt entstehen. Die ersten Schritte des musikalischen Spracherwerbs gelingen dabei weitgehend unbewusst und beim Übergang zum Instrumentalunterricht stellt sich die Aufgabe, dass er nicht mit einem vollständigen Paradigmenwechsel verbunden sein darf und nun plötzlich durch Noten, Haltungen und Griffe – durch lauter technisches – der Blick auf die Musik verstellt wird. Um sich die Sprache der Musik mehr und mehr zu eigen zu machen, ist es notwendig, sie auch anzuwenden. Das geschieht in elementarer Weise – zum Beispiel singend – aber auch in den elaborierteren Formen, wie sie mit einem über längere Zeit fortgesetzten Instrumentalunterricht möglich werden. Und schließlich geht es darum, mit dieser erworbenen Sprache zu kommunizieren. Damit wird eine dritte, entscheidende Stufe betreten: Kommunikation mit anderen ist der Musik so wesens­immanent, dass man sagen muss: Wer zwar spielt, aber sich dabei auf „Selbstgespräche“ beschränkt, dem bleibt ein wichtiger Teil dessen, was die Musik uns zu geben hat, verschlossen.

Und wenn ich hier von einer dritten Stufe spreche, so heißt das nicht, dass damit gewartet werden kann, bis Spracherwerb und Instrumentaltechnik weit fortgeschritten sind. Vermutlich würde kein Kind je die Sprache erlernen, wenn es nicht, um kommunizieren zu können und damit der Erfüllung seiner Wünsche näher zu kommen, darauf angewiesen wäre. Spracherwerb und Kommunikation müssen sich Hand in Hand entfalten (Gruppenunterricht nicht nur als Notlösung!). Die Idee des Ensembles muss früh im Entwicklungsprozess verankert sein.

Sie merken schon, worauf das hinausläuft: zur Musik hinführen, die Sprache der Musik zu erwerben, im Gebrauch dieser Sprache vielerlei zu erproben und mit Gleichgesinnten musikalisch zu kommunizieren – das ist an keinem anderen Ort so vereint und so gut abzuholen wie an der Musikschule. Musikalische Bildung ist auf die Musikschule angewiesen und die Erkenntnis, dass wir heute Partnerschaften mit anderen Bildungseinrichtungen einzugehen haben (mit der allgemeinbildenden Schule zu allererst) ändert nichts an dieser Tatsache.

Der Begriff der musikalischen Bildung erscheint zunächst sehr abstrakt und hat vielleicht auch deshalb keine große Anziehungskraft. In Wahrheit geht es aber viel weniger um Bildungsbesitz, den man getrost nach Hause tragen kann, als um lebendiges Leben, um vielfache Erfahrungen beim Musizieren. Jeder, der aktiv Musik macht oder gemacht hat, teilt die Erfahrung, dass das Musizieren uns in außerordentlicher Weise das Gefühl der Lebendigkeit verleihen kann – das Empfinden, ganz mit der eigenen Mitte verbunden zu sein, zugleich aufzugehen im Kräftespiel eines Ensembles und vielleicht sogar „emporgehoben“ zu sein aus der Lebens-Normalität.

Wenn Musikpädagoginnen und -pädagogen oder die musikpädagogischen Institutionen sich dafür einsetzen, möglichst vielen Menschen von Anfang an eine intensive Begegnung mit der Musik zu ermöglichen, dann geht es ihnen um durchaus unterschiedliche Aspekte: um musikalische Bildung für alle, um die Pflege unseres musikalischen Erbes, um die Sorge für einen Nachwuchs in den Musikberufen – aber  im Kern um etwas viel Konkreteres, Unmittelbares: um die Chance für viele junge Menschen, in der Musik „Leben in aller Lebendigkeit“ zu erfahren. Musik ist Leben.
Für wen sind wir, sind die Musikschulen da? Die einfache Antwort auf diese Frage: für ALLE. Diese Antwort ergibt sich zwingend aus dem zuvor Gesagten: Wenn man der musikalischen Bildung und den musikalischen Aktivitäten einen so hohen Stellenwert für die Qualität des Lebens zumisst, muss die logische Konsequenz heißen: im Grundsatz alle einladen, die Angebote der Musikschule wahrzunehmen und, auf Seiten der Musikschule, die entsprechenden Angebote in vielfältiger Ausdifferenzierung vorzuhalten.

Die Geschichte der Musikschule nach dem Zweiten Weltkrieg ist auch eine Geschichte der ständigen Erweiterung ihrer Adressaten. Die ursprüngliche Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen wurde mit der Musikalischen Früherziehung um den Bereich der Kleinkinder erweitert; danach wandten die Musikschulen sich auch ausdrücklich Behinderten (und, wie wir sagten, von Behinderung bedrohten) zu; schließlich auch Schülern mit Migrationshintergrund, Erwachsenen und Senioren. Auch der jüngste konzeptionelle Entwicklungsschritt: den Unterricht am Prinzip der Inklusion zu orientieren und damit eine gewünschte gesellschaftliche Entwicklung auch mit musikpädagogischen Mitteln zu unterstützen, schreibt die Geschichte sinnvoll weiter und verdient volle Unterstützung.

Daran ändert auch nichts, dass ich es oft merkwürdig finde, wenn die Politik ein neues Thema definiert und fokussiert und dann plötzlich alle, die sich für Musik, für Museen, Theater, für Sport oder für Jugendarbeit nicht die Bohne interessieren, plötzlich mitreden können, weil anstelle der jeweiligen fachlichen Inhalte die Genderfrage, das Migrationsthema, die Barrierefreiheit und nun eben die Inklusion zur prima causa erklärt werden. Aber die Musikschulen haben gut daran getan, sich keinem dieser idealistischen Ziele zu verschließen – umso richtiger, als sie mit ihrer Arbeit jeweils sehr hilfreiche und sehr lebendige Beiträge erbringen konnten. 

Partnerschaft Musikschule – allgemeinbildende Schule

Die noch viel idealistischere Idee einer musikalischen Bildung für Alle würde die Musikschule alleine überfordern. Einige Anmerkungen zur Zusammenarbeit mit den allgemein bildenden Schulen, die derzeit überall, auch in anderen europäischen Ländern, an Bedeutung gewinnt.

Im Prinzip müssen wir zu einer Zusammenarbeit zwischen Musikschule und allgemeinbildender Schule schon deshalb „Ja“ sagen, weil wir alleine nicht in der Lage sein werden, ein musikpädagogisches Angebot an ALLE zu richten. Aber bitte in einer sorgfältig gestalteten, die Möglichkeiten und Stärken beider Institutionen genau ausbalancierenden Form der Kooperation. Und nicht in der Weise, dass die Musikschule ihr über Jahrzehnte gewonnenes Profil der Eigenständigkeit verwässert und sich in ein fliegendes Service-Unternehmen für musikalischen Unterricht an anderen Orten verwandelt.

Eine besondere Stärke der Musikschule liegt in ihren dargelegten vielfältigen musikpädagogischen Möglichkeiten. Der besondere Charme unserer Institutionen liegt aber darin, eine Schule eigener Art mit einer ganz besonderen Atmosphäre zu sein. Sie beruht

  • auf der Tatsache, dass die Schüler freiwillig zur Schule kommen;
  • darauf, dass es nicht um Dutzende von Fächern, um Rechtsbeziehungen, kollegialen und Schülerstress, Noten und Versetzungen geht, sondern im Wesentlichen um eine Sache: die Musik in ihrer ganzen Vielfalt;
  • auf der engen persönlichen Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden;
  • auf der familiären Atmosphäre;
  • auf einem Lernen aus Begeisterung, wenn Lehrer und Schüler von der Materie fasziniert sind;
  • auf einer Lernsituation, die im Idealfall immer wieder auf einer Bühne kulminiert, ihr Ziel findet, und mit starken gemeinschaftlichen Erfolgserlebnissen verbunden ist.

Nur mit ungebrochener, starker Identität können Musikschulen gute Kooperationspartner sein. Was nicht zur Disposition stehen kann, sind die identifikationsstiftenden Merkmale: eigene Organisation, eigenes Personal eigenes Haus, und eigener Schulstil.

Zur Frage der Begabung

Musikschule für alle, das bedeutet logischerweise, dass die Frage der Begabung eine untergeordnete Rolle spielt. So wie fast jeder Mensch es lernt, ordentlich zu sprechen, ist bei den allermeisten Menschen eine musikalische Begabung vorauszusetzen, die vollkommen ausreicht, um sich zu einem tüchtigen Musiker jedweder Art zu entwickeln. Das Problem ist, dass wir vielen unserer Kinder nicht (und das heißt vor allem: nicht rechtzeitig) die Chance geben, diese Anlage zu entfalten.

In der musikpädagogischen Alltagsarbeit ist das Begabungsthema selbstverständlich relevant, aber kein entscheidendes Kriterium. Der gesellschaftliche Konsens besteht doch darin, auf Begabungsdefizite mit besonderen kompensatorischen Anstrengungen zu reagieren. Wer könnte angesichts dessen daran denken, einem willigen Klavierschüler – wie es einmal gewesen sein mag – die Tür zu weisen, weil es sich aus Begabungsmangel „nicht lohnt“? Ich bestreite nicht, dass es herausragende Begabungen in jedweder Ausprägung gibt, bin aber nicht sicher, ob sie immer erkannt werden und hoffe sehr, dass auch diese besonders Begabten in der Musikschule gut aufgehoben sind – sozusagen vom Gedanken der Inklusion mit erfasst werden.

„Jugend musiziert“

Ich wünsche mir in diesem Sinne sehr, dass auch „Jugend musiziert“ in den neuen Leitlinien eine gewichtige Rolle spielt. Wir wissen, dass besonders talentierte und engagierte Schüler frühzeitig nach einem Hochschullehrer und dann auch bald in eines der Precolleges streben, die inzwischen alle Hochschulen eingerichtet haben. Das ist auch in mancher Hinsicht vernünftig. Ich meine aber, dass der Anfang an einer Musikschule auch für diejenigen richtig sein muss, die sich dann als besonders talentiert und zielstrebig erweisen und dass die Frage des Übergangs an eine Hochschule von den jeweiligen personellen und sonstigen Rahmenbedingungen der Musikschule abhängen wird. Und da ist es nicht zu wünschen, dass es in absehbarer Zeit nur noch ein paar Musikschulen gibt, die den Bedürfnissen zukünftiger Musikstudenten länger als bis zu deren zwölftem Lebensjahr gerecht werden können …

Noch wichtiger ist das Bekenntnis der Musikschulen zu „Jugend musiziert“ aber unter dem Aspekt, dass auch diejenigen, die nicht an einen Musikberuf denken, sondern nur ein intensives musikalisches Engagement ausleben möchten, in der Musikschule keine exotischen Fremdlinge sein sollten, sondern dass die Musikschule für ihre ganze Arbeit auf diese Gruppe von Schülerinnen und Schüler sehr angewiesen ist und ohne irgend eine Art von schlechtem Gewissen auch „Vorzeigeexemplare“ in ihnen sehen darf.

Und welche Arten von Musik, welche Genres oder Stilistiken gehören in die Musikschule? Auch hier, mit Jenny aus der Dreigroschenoper gesprochen, werden Sie mich sagen hören: ALLE!
Das Faszinierende der Musik besteht ja unter anderem darin, dass sie alle Varianten des Lebens, alle Zustandsformen, alle Lebenswelten abbildet; dass wir Kulturen und Epochen über ihre Musik kennenlernen können, dass alle Charaktere und Menschentypen auch als Musikerinnen und Musiker anzutreffen sind und die Musik uns damit auf vielfältigste Weise die Möglichkeit gibt, die Welt in ihrer Komplexität zu erfahren und zu verstehen.

Sie ahnen wiederum, worauf das hinausläuft: Ich sehe in der Musikschule die ideale, ja die einzige Institution, die ihren Schülern mit einem breit gefächerten Angebot eine Vorstellung von der außerordentlichen Vielfalt der Musik vermitteln kann. Aber zu den Zielen der Musikschule sollte es unbedingt gehören, dass ihr Angebot nicht nur insgesamt von Vielfalt geprägt ist, sondern auch die einzelnen Schüler mit unterschiedlichen Stilen vertraut gemacht werden und ihnen damit von Anfang an ein weites musikalisches Weltbild vermittelt wird. Dabei geht es auch darum, dass musikalische Genres und Lebenswelten nicht mit klischeebesetzten Vorurteilen wahrgenommen, sondern in ihrem inhaltlichen Kern erlebt werden.

Am stärksten mit Vorurteilen behaftet ist wohl das Verhältnis zur klassischen Musik – sie hat bei vielen jungen Menschen ein schlechtes Image. Der Grund dafür liegt nach meiner Meinung am wenigsten bei der Musik selbst, sondern bei den erstarrten Darbietungsformen: Anzug und Krawatte im Saal, Frack und Blumenschmuck auf der Bühne, unveränderbare Rituale; andachtsvolles Zuhören und dezente Pausengespräche: Das alles „törnt junge Leute nicht an“. Die Musikschulen sollten diese Darbietungsformen nicht ungefragt und in falscher Ehrfurcht übernehmen, sondern sich aufgerufen fühlen, selbst Beiträge zur Entwicklung junger und frischer Konzertformate zu leisten.

Öffentliche Musikschule

Ich komme zum Schluss – mit einigen Anmerkungen zum Begriff der öffentlichen Musikschule. Der Begriff „öffentlich“ steht in relativer Nähe zum Begriff „staatlich“. Wir sind gewohnt, diesen Begriff erst auf der Länderebene anzuwenden, aber repräsentieren nicht die Kommunen die untere Ebene unseres Staatswesens, auf die der Staat etliche seiner Aufgaben – zum Beispiel im Sozialbereich – übertragen hat?

„Öffentlich“ – das impliziert einen Bildungsauftrag, das lässt an die Erfüllung einer politischen, also staatlichen Aufgabe denken und genauso ist musikalische Bildung in unseren Augen ja zu sehen. Musikalische Bildung kann viel zu sinnvoller Freizeitgestaltung beitragen – aber sie gehört eben nicht in den Warenkorb der Freizeitangebote. Der Begriff „öffentliche Musikschule“ ist gut, zutreffend und politisch klug gewählt. Eine leise Gefahr sehe ich dennoch, auf die ich aufmerksam machen möchte: Öffentlichen Einrichtungen wird unter Umständen ein Charakter von Anonymität zugeschrieben oder auch: Reduzierung auf Grundversorgung – und wer mehr möchte, muss sich bitte privat umschauen. Darum ist es wichtig, so gut und so oft wie möglich darauf aufmerksam zu machen (durch unser ganzes Auftreten, auch durch unser Marketing), dass sich in unseren Häusern der Aspekt der Öffentlichkeit mit intensiver Betreuung, individueller Förderung, mit familiärem Charakter und einem hohen Wohlfühlfaktor verbindet.
(Und dies ist auch nach innen als wichtige Aufgabe für die Gestaltung unserer Unternehmenskultur zu behandeln. Es ist sicher auch heute noch so, dass mancher kritische Kommentar zur Musikschularbeit, den man im Gespräch mit Eltern hören kann, mit einer als bürokratisch empfundenen Kundenbetreuung zusammenhängt; mit unzureichender Auskunft, wie lange man noch auf der Warteliste stehen wird oder mit mangelnder Benachrichtigung über ausfallenden Unterricht. Derart unangenehme Nachrichten verbreiten sich leider gerne, denn sie bedienen ein Klischeebild gegenüber öffentlicher Verwaltung. Auch hierzu sollte das Leitbild ein deutliches Wort sagen!)

Meine Damen und Herren, meine Begeisterung für die Musikschul-idee ist in all den Jahren – im anderen Land, im anderen Berufsumfeld – nicht geringer geworden. Auch die Begründung für diese große Zuneigung und die Wertschätzung unserer Einrichtungen ist im Wesentlichen unverändert geblieben – denn der Grundgedanke einer auf das aktive Musizieren fokussierten musikalischen Bildung ist zwar immer wieder unterschiedlich zu akzentuieren, aber nicht von Grund auf neu zu erfinden.

Wie gut, dass der VdM sich daran macht, mit Grundsatzprogramm und Leitlinien seinen Kompass wieder aktuell zu justieren. Dabei sollten wir unverdrossen und beharrlich weiter darauf hin arbeiten, dass am Ende dieses Prozesses die öffentlichen Musikschulen so fest und anerkannt im Bildungssystem verankert sind, dass der heute noch so beliebte Satz, „die Musikschule XY sei aus der Stadt Z nicht mehr wegzudenken“, als zu banal und selbstverständlich betrachtet wird, um ihn überhaupt auszusprechen. 

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