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Dresden, Semperoper, Platz 9 im 1. Rang. Foto: mku

Dresden, Semperoper, Platz 9 im 1. Rang. Foto: mku

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Reihe 9 (#96) – +90

Vorspann / Teaser

Land auf, Land ab werden trotz knapper Kassen große Opernhäuser und Konzertsäle saniert, modernisiert oder gar neu gebaut. Es sind Investitionen in die Zukunft, denn ein greifbares Ergebnis wird oft erst in einem Jahrzehnt vorliegen. Für die Zwischenzeit werden Ausweichspielstätten hergerichtet, mit denen nicht selten die Quartiere erobert werden. Wenn es um Kammermusik geht, sieht die Welt allerdings ganz anders aus. Nur wenige Spielstätten sind überhaupt auf ihre Gattungen und Formate ausgelegt – und fast jede Stadt übt sich in ihren eigenen Provisorien (wenn es dort Kammermusik überhaupt noch gepflegt wird). Und so gibt es die kleinen Besetzungen oft in der Oper – freilich im Foyer. Aber auf der großen Bühne?

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Dresden ist seit Jahren mit der Bahn trotz Taktung schlecht zu erreichen. Entscheidender: Man kommt abends auch nicht mehr so richtig weg, selbst nach einem kürzeren Konzert. Die beiden Fernverkehrs-Routen nach Leipzig und Berlin haben sich dann bereits zur Nachtruhe begeben. Schon vor der Tagesschau fährt dort der letzte Zug ab. Das war zumindest im Spätwinter 1911 anders. Damals fuhren Sonderzüge ins Elbflorenz zur Uraufführungs-Produktion des Rosenkavaliers an der Semperoper Sonderzüge, belegt durch eine ausführliche und leicht satirische Reportage im Berliner Tagblatt. Dort heißt es auch ganz ernst: „Nach der Ankunft in Dresden blieb genau eine Stunde Zeit bis zum Beginn der Vorstellung.“ Offenbar war dieser Fan-Zug pünktlich … und setzte sich nach der Vorstellung auch wieder in Bewegung zurück an die Spree.

Nun ist Bahn-Bashing mittlerweile zum Volkssport geworden. Eigentlich langweilig, denn jeder ist bei all seinen individuellen Abenteuern doch noch angekommen – irgendwie, irgendwann. Und doch: Anders als damals berücksichtigt man heute schon für sich selbst genügend Pufferzeiten – jene Zeiten, die man in dem auf Kante genähten Fahrplan nicht mehr findet. Ärgerlich nur, wenn man genau dann einmal mehr ausgebremst wird, wenn alle Anschlüsse erreicht wurden. In diesem Fall stand zwischen Bad Hersfeld und Eisenach eine Kuh auf dem Gleis, und wollte nicht weichen. Danach hieß es „+90“, so dass aus dem geplanten Abendessen ein Stehimbiss wurde – um gerade noch rechtzeitig den 3. Kammerabend in der Semperoper zu erreichen. 

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Kammermusik auf der großen Bühne. Foto: Jörg Simanowski

Kammermusik auf der großen Bühne. Foto: Jörg Simanowski

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Wie wohl Paul Hindemith und Antonín Dvorák, beide neben vielen anderen Komponisten große Freunde der Eisenbahn, die Zug-Zeit überbrückt hätten? Von ihnen stand jedenfalls je ein Werk auf dem Programmzettel: eine Sonate für vier Hörner (zweifelsfrei ein sehr seltenes Live-Ereignis) und das leider viel zu oft gehörte „amerikanische“ Streichquartett F-Dur op. 96, in dem viele Landschaften am Fenster vorbeiziehen – überraschend sekundiert von einem der seltenen Klaviertrio von Carl Czerny (hier mit Horn und Violine, wie man es später von Brahms kennt). Kammermusik im eigentlichen Sinne war das allerdings nicht – dafür war es in den etablierten Gattungen einfach der „falsche“ Raum. Und doch scheint die Reihe hier ihre Berechtigung zu haben: Die Auslastung näherte sich einem „sehr gut“, den Touristen sollte offenbar an einem spielfreien Tag eine gute Abendunterhaltung geboten werden (für diese Gruppe gab es sogar einen kleinen Applaus-Leitfaden vorab, der seinerseits applaudiert wurde). Am Ende blieb bei mir ein zwiespältiges Gefühl zwischen Respekt und Unverständnis. Nicht ohne Grund wurden früher einige exponierte Streichquartette für Streichorchester arrangiert ...

Reihe 9

Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.

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