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Titelseite der nmz 2024/03.

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Biodiversität und kulturelle Vielfalt

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Anmerkungen zum Dossier „Nachhaltigkeit im Konzertbetrieb“ · Von Rainer Nonnenmann
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Wir müssen nachhaltig wirtschaften: jeder einzelne für sich mit seiner/ihrer bestimmten Menge an Einkommen, Gesundheit, Arbeitskraft, Freizeit, Aufmerksamkeit sowie wir alle zusammen als planetarische Gemeinschaft mit den auf der Erde vorhandenen Lebensgrundlagen. 

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Der Begriff „Nachhaltigkeit“ benennt eine ebenso individuelle wie gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe, die sämtliche Lebensbereiche betrifft. Überall braucht es die Umsicht, über naheliegenden Nutzen hinausschauend in komplexen Wirkungszusammenhängen auch mögliche Folgeschäden zu erkennen und nachteilige Effekte am besten direkt zu vermeiden. Das betrifft den Umgang mit lokal und weltweit vorhandenen Ressourcen an Boden, Wasser, Luft, Rohstoffen, Energie, Flora und Fauna sowie viele weitere Aspekte, auch in Kunst, Kultur, Musik. In der Studie „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome wurden 1972 weltweit erhobene Daten zu Bevölkerungswachstum, Rodungen, CO2-Gehalt der Atmosphäre, Energie-, Rohstoff- und Bodenverbrauch durch Computersimulationen für eben jene Zukunft vorausberechnet, die fünfzig Jahre später unsere Gegenwart geworden ist. Hätte man damals schon umgesteuert und nachhaltig zu wirtschaften begonnen, wäre der heute vom Global Footprint Network errechnete „Erdüberlastungstag“ nicht schon am 29. Juli erreicht. In Deutschland haben wir den jährlichen Pro-Kopf-Anteil an den terrestrischen Ressourcen sogar schon am 4. Mai verbraucht. Statt nachhaltig zu leben, konsumieren wir dreimal so viele Kapazitäten wie sich während eines Jahres regenerieren könnten. Das geht auf Kosten anderer Länder und künftiger Generationen.

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Die 2015 von der Generalkonferenz der Vereinten Nationen beschlossenen „Sustainable Development Goals“ (DSG) benennen einen möglichst bis 2030 umzusetzenden Aufgabenkatalog zur nachhaltigen Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft. Betroffen sind alle Teile des privaten- und öffentlichen Lebens, einschließlich Bildung, Musik, Kunst, Kultur, Museen, Archive, Bibliotheken, Baudenkmäler, Veranstalter, Clubs, Opern- und Konzerthäuser, Musikhochschulen, Orchester, Ensembles. Es geht um energetische Sanierung, Kreislaufwirtschaft, Mehrweglösungen, Dachbegrünung, Photovoltaik, Renaturierung, Ausgleichsmaßnahmen, Materialwahl, Verpflegung, Tourplanung, Reisetätigkeit… Viele Lösungsansätze sind jedoch zwiespältig, etwa die zunehmende Digitalisierung. Sie ist sowohl Teil der Lösung als auch eine Ursache der Rohstoff-, Energie- und Klimakrise. Zudem sind die ökologischen Aspekte von Nachhaltigkeit nicht die einzigen. Es geht auch um kulturelle Vielfalt, Aufführungs- und Rezeptionspraktiken, die Pflege von Repertoire, Innovation und Diskursen sowie um kulturelle Teilhabe. Dabei steht die für Kunst und Kultur kostbarste Ressource Aufmerksamkeit im Zentrum. Wie weckt man auch in Zukunft die Neugier für Experimente, Ungewohntes, Neues und Altes, alternative und traditionelle Ausdrucks- und Darstellungsweisen? Wie sollen Kultur­einrichtungen in zwanzig Jahren aussehen, finanziert, organisiert, vernetzt werden? Wie international, multikulturell, divers, in- oder exklusiv sollen die Programme sein? Welches Publikum wird wie und womit angesprochen? Wie lassen sich mehr Menschen für Musik jenseits des Mainstream begeistern? Wie versorgt man auch Kleinstädte und ländliche Räume mit Musik? Wie halten wir Kunst und Musik gegenwärtig, lebendig, kreativ, zukunftsoffen?

Alle Fragen verursachen sofort weitere Fragen, weil naheliegende Antworten unversehens zu Konflikten mit weiteren Aspekten führen, die es ebenso zu berücksichtigen gilt, will man wirklich nachhaltig handeln. Wie kann Musik einen Beitrag zur individuellen Selbst- und Welterfahrung leisten sowie zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und Demokratie? Und wie bewahren wir gleichzeitig die Freiheit der Kunst angesichts wachsenden Rechtfertigungsdrucks durch ökologische, ökonomische, politische, soziale und ethische Belange sowie durch Versuche, Kunst hierfür in Dienst zu nehmen? Was setzt Musik der wachsenden Verzweiflung und Depression angesichts gegenwärtiger Krisen, Kriege, Katastrophen entgegen? Und wie schützen wir Musik vor Funktionalisierungen und erhalten wir den Eigenwert ästhetischer Erfahrung?

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