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Die Nachwehen der Europa-Wahl

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Antieuropäische Tendenzen und die Folgen für die Kultur · Von Barbara Gessler
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Was bedeutet der Rechtsruck in der Europäischen Union nach der Europawahl 2024 aus dem Blickwinkel der Kultur? Mit dieser Frage wandte sich die Redaktion der neuen musikzeitung an die Leiterin der Vertretung der EU-Kommission in Deutschland, Barbara Gessler. Lesen Sie im Folgenden ihre Einschätzung.

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Die Nachwehen der Wahlen zum Europäischen Parlament am 9. Juni 2024 werden Europa noch lange beschäftigen. Nicht zuletzt, weil die Ausrufung von Neuwahlen in Frankreich eine Neuorientierung des Landes mit sich bringen könnte, mit Auswirkungen auch auf die Rolle der Grande Nation für den europäischen Integrationsprozess. Das gute Abschneiden der Parteien der politischen Extreme auch in Deutschland wirft viele Fragen auf. Dass viele junge Menschen, in Deutschland auch Erstwählerinnen und Erstwähler ab 16, sich für Programme mit eher anti-europäischer Orientierung ausgesprochen haben, kam nicht überraschend und muss doch mit Blick auf die Ursachen genau analysiert werden. 

Welche Schlüsse daraus zu ziehen sind bezüglich der Themen, die ihnen wichtig waren und sind und der Kommunikation darüber, wird eine wichtige Aufgabe nicht nur für die europäische Parteienlandschaft sein. Auch die anderen politischen Akteure im europäischen Entscheidungsfindungsprozess sind gefragt, wenn in den kommenden Monaten die Leitlinien und Prioritäten für das neue Mandat erarbeitet werden. Das gilt selbstverständlich auch für die Europäische Kommission, die sich, bei Bestätigung der Präsidentin oder des Präsidenten durch das Europäische Parlament Mitte Juli, konstituieren wird. Die Mitgliedstaaten werden Vorschläge für die Kommissionsmitglieder machen, die die politischen Mehrheitsverhältnisse des jeweiligen Landes reflektieren. Diese werden dann nach parlamentarischen Hearings als Kollegium bestätigt werden müssen und voraussichtlich im November ihre Arbeit aufnehmen können. Gleichzeitig hat jedoch das Parlament die Möglichkeit, einzelne Ernennungen nach ihrer individuellen Anhörung abzulehnen und einen neuen personellen Vorschlag zu erbitten. Abhängig von der letztendlichen Zusammensetzung des Kollegiums wird die Präsidentin oder der Präsident den Zuschnitt der Portfolios der einzelnen Kommissare und Kommissarinnen festlegen, wobei nationale Interessen für bestimmte Zuständigkeiten berücksichtigt werden.

Wer also den Hut in den Ring wirft, sich für Kulturpolitik und Kulturförderung auf der europäischen Ebene zu engagieren, kann wesentlich auch die spätere Politik in diesem Bereich beeinflussen. Seit vielen Monaten erarbeiten die Dienste bereits konkrete Vorlagen für diese Zeit, in denen einerseits die gesetzliche Fortsetzung erprobter Ausrichtungen enthalten ist, aber auch neue Vorstellungen eingespeist werden können. Koordiniert vom Generalsekretariat der Europäischen Kommission sind diese vorbereitenden Dokumente quasi eine Art Status Quo des Bestehenden, können aber auch innovative Elemente enthalten, die auf der Grundlage bisheriger Politik neue Ansätze formulieren, die von der politischen Ebene angenommen und umgesetzt werden können. Im Europäischen Parlament selbst ist die Formung von Fraktionen ein wichtiger Meilenstein, denn sie steht auch für die Ansprüche bei Vorsitzen von Ausschüssen und später der Vergabe von Berichten. Da im Europaparlament oft nah am Thema und nationalen Sensibilitäten diskutiert und abgestimmt wird und weniger entlang strenger Fraktionslinien, sind wechselnde Mehrheiten keine Seltenheit. 

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nmz 2024/07 – Seite 1

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Für den Kulturbereich wird also nicht nur wichtig sein, wer etwa den Kulturausschuss leiten wird, sondern auch, wer in der Kommission diese Zuständigkeit erhält und wie dieses Mandat ausgestaltet wird. Der Kultur- und Kreativbereich ist nicht nur Ausdruck eines der größten Assets der EU, nämlich ihrer kulturellen Vielfalt, sondern auch ein bedeutsamer Wirtschaftsfaktor. Viele Politikbereiche haben direkten Einfluss auf Bestehen und Florieren einer reichen und vielfältigen europäischen Kulturlandschaft, in denen Künstlerinnen und Kreative in Freiheit ihre Kunst erschaffen und von ihrer Arbeit leben können sowie Bürgerinnen und Bürger Zugang zu diesen Werken erhalten. Wettbewerbsregeln und Binnenmarktregulierungen, der Rechtsrahmen für die digitale Transformation, die Unterstützung von kleinen und mittleren Unternehmen und Start-ups, Zugang zu Forschung und Entwicklung, Grundrechtsfragen, Industrie-, Umwelt-, Kohäsions-, Außen- und Handelspolitik etwa betreffen die Realität der Branche direkt oder indirekt. 

Ein wichtiger Meilenstein wird die Verhandlung zum neuen mehrjährigen Finanzrahmen ab 2028, der über die finanzielle Ausstattung der Förderprogramme wie etwa Kreatives Europa entscheiden wird. Gerade dabei wird natürlich den Mitgliedern des Europäischen Parlaments als ebenbürtiger Teil der Haushaltsbehörde eine besonders wichtige Rolle zukommen. Es wird dann konkret darum gehen, zum Beispiel bei Kreatives Europa, ob und für welche Aktivitäten Geld zur Verfügung gestellt werden soll, ob grenzüberschreitende Kooperation, Austausch und künstlerisches Experiment gefördert werden sollen oder ob andere thematische Schwerpunkte gesetzt werden.

Bei der Ausformulierung kann es dann auch darum gehen, ob weiterhin Gleichstellung, Inklusion und Diversität derselbe Raum gegeben wird oder ob andere Gesichtspunkte in den Vordergrund rücken. Ob das offene Konzept des kulturellen Erbe Europas so Bestand haben wird, könnte ebenfalls in Frage gestellt werden. In den vergangenen Verhandlungen waren die Mitgliedstaaten im Rat als Financier des Haushalts dem Kulturbereich und dessen Förderung positiv gesonnen, bei der nächsten Runde könnten neue Verhältnisse in einigen Mitgliedstaaten zu anderen Positionierungen führen. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderungen und der geopolitische Kontext werden notwendigerweise zu Priorisierungen führen. Das ist kein spezifisch europäisches Thema, es stellt sich auch für nationale Regierungshaushalte und bedarf stetig guter Argumentation und Lobbyismus für die Sache. 

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