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Patrick Hahn mit Schlagwerk. Foto: WDR / Holger Talinski

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Bechers Bilanz – Dezember 2023: Arnold Schönberg steht neben einer lustigen Witwe

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2024 erwartet uns erneut ein Jahr mit großen Musikerjubiläen. Sicher ist: Der 150. Geburtstag von Arnold Schönberg setzt weniger Gesamtaufnahmen in Gang als der 200. Bruckners. Der Linzer Symphoniker wirft eben mehr Profit ab als der Zwölftöner. Weil er mehr Publikum hat, geben wir’s zu. Und doch schöpft die Musikwelt für Schönberg aus dem Vollen, angefeuert vom fantastischen Arnold Schönberg Center in Wien. Es wird also in diesem Jahr mehr gespielt als die „Verklärte Nacht“ und der „Pierrot Lunaire“.

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Bonn: „Moses und Aron“
Reinige dein Denken!

In Sachen Schönberg rennt die Oper Bonn voraus. Bereits zum 10. Dezember des Vorjahres setzt sie eine Neuproduktion von „Moses und Aron“ an. Ich besuche die zweite Vorstellung am 13. Dezember, und schon jetzt ist das Haus nur noch halb voll (s. o.). „Moses und Aron“ fordert alle Beteiligten – auf der Bühne, hinter der Bühne und im Zuschauerraum. Hier fallen Sätze wie „Reinige dein Denken“ und „Unerbittliches Denkgesetz zwingt zur Erfüllung“. Strammstehen gilt in der Oper als verpönt, kuscheliger wird es kaum. Andererseits erhält die Geschichte des auserwählten Volkes auf der Flucht gerade bestürzende Aktualität. Beklommen vernimmt man „Israels Bestehn bezeuge den Gedanken des Ewigen!“, denkt an den Krieg im Nahen Osten, an die Entstehungszeit des Werkes (1930–32) und dass Schönberg schon 1921 aus seiner Sommerfrische am salzburgischen Mattsee vertrieben wurde, weil man keine Juden dulde. Eine Begegnung mit Schönbergs Oper kann den Kampf gegen den Antisemitismus bestärken.

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„Moses und Aron“ erzählt von Ideen, nicht von Personen. Unter den beiden Brüdern tritt Moses, die Sprechrolle, für den Gedanken ein, Aron, der Tenor, für dessen Darstellung durch Bilder und Taten. Denker vs. Politiker. Angesichts des göttlichen Bilderverbotes ein Dilemma. Schönberg lässt die Auseinandersetzung in einer zwanzigminütigen Actionszene eskalieren, dem „Tanz um das Goldene Kalb“, in dem er seine stupenden Fähigkeiten als Orchesterkomponist auffächert. Chefdirigent Dirk Kaftan leistet Enormes mit seinem Beethoven Orchester. So farbenprächtig, rhythmisch markant und, ja, melodisch verführerisch ist Schönberg selten zu hören. Der Bonner Opernchor und das Vocalconsort Berlin (Einstudierung: Marco Medved) werden in der Bühnenpräsenz etwas entlastet, mussten ihre Partien aber trotzdem mit mindestens halbjährigem Vorlauf einstudieren. Die Choristen tragen die Aufführung mit Spielfreude und Genauigkeit. Der Schweizer Regisseur Lorenzo Fioroni zeigt eine bildgewaltige Zeitreise von barocker Kulissenschieberei hin zum Action Painting. Dieses ist der Clou der Produktion: Im „Tanz um das Goldene Kalb“ sehen wir statt der Chororgie einen Moses als ausgepowerten Künstler, dem nichts mehr gelingen will. Schließlich entkleidet er sich, taucht sich in Farbe und schafft sein Werk durch vollen Körpereinsatz. Es ist kaum auszuhalten. Der Bassbariton Dietrich Henschel entäußert sich vollständig für diese Szene, Fioroni kommt damit der Entgrenzung näher als herkömmliche Inszenierungen, die es gemeinsam mit dem Chor krachen lassen. Henschel und Martin Koch sind Moses und Aron mit Leib und Seele und höchster Musikalität. Ein Hoch auf die Oper Bonn für diese Produktion! Schönbergs „Moses und Aron“ ist kein Opernabend zum gefühligen Mitleiden. Aber man wird ihn so schnell nicht vergessen. Zweimal geht es im Januar noch (7 und 13). 

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Düsseldorf: „Septembersonate“ von Manfred Trojahn
Verheddert im Konjunktiv

Manfred Trojahn hat für die Deutsche Oper am Rhein sein neuntes Bühnenwerk geschrieben und dabei auf eine Kurzgeschichte des amerikanischen Autors Henry James zurückgegriffen: „The Jolly Corner“ (1908). Deren Protagonist verweigert sich dem väterlichen Wirtschaftsimperium zugunsten einer Künstlerkarriere in Europa. Als Osbert Brydon nach 33 Jahren nach New York zurückkehrt, um das Haus der verstorbenen Eltern auszuräumen, begegnet ihm seine Jugendfreundin Ellice Staverton. Sie wirft ihn aus der Bahn, er verheddert sich im Konjunktiv. Wer wäre ich, wenn ich damals anders entschieden hätte? Unter dem raunenden Titel „Septembersonate“ formt Trojahn aus dem Stoff eine Künstleroper mit gespenstischem Doppelgängermotiv. Wo Grübelei, Zweifel und Übersinnliches herrschen, schöpft der Theaterpraktiker Trojahn aus dem Vollen. Ein kammermusikalisches Ensemble aus 15 Instrumenten stellt Intimität her, kann aber auch große Oper. Im Laufe des Abends wird die Musik flächiger, auch sinnlicher, und nach vielen Wiederholungen lauscht man den Klängen wie den Erzählungen alter Freunde. 

Unter der Regie von Johannes Erath verwandelt sich die Schauspielerin Ellice Staverton in ein Revuegirl, das sich müde abschminkt und bald als Marilyn Monroe zurückkehrt. Männerproblem und Männerphantasie liegen nah beieinander. Zum Ausgleich entscheidet sich das Regieteam am Ende, während Trojahn den Abend mit einem Rilke-Gedicht krönt, für einen Film, der Ellice und Osbert beim Verlassen des Düsseldorfer Opernhauses begleitet. Ein Augenzwinkern erdet den Konjunktiv. Juliane Banse singt mit tief timbriertem Lyrischem Sopran, Holger Falk mit deutlicher Diktion und vollendeter Phrasierung. Das Düsseldorfer Premierenpublikum am 3. Dezember applaudiert nach anderthalb Stunden allen Beteiligten sehr herzlich.

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Oper Köln: „Die lustige Witwe“
Wider die eigene Verzweiflung

Zum Jahreswechsel produziert die Oper Köln in ihrem Ausweichquartier „Staatenhaus“ eine rasante, unbekümmerte und musikalisch hervorragende „Lustige Witwe“, inszeniert von Bernd Mottl. Dem Regisseur scheinen Publikumserfolge nicht verdächtig, er ist also der Richtige für den frivolen, gelegentlich abgeschmackten und keinesfalls woken Humor der „Witwe“. In bester Offenbach-Tradition würzt Mottl seine Textbearbeitung mit Anspielungen auf die Renovierung der Kölner Oper. Nachdem Hanna Glawari die abgewrackten Botschaftsräume Pontevedros in einen sozialistischen Prachtraum mit herrlichen Mosaiken verwandelt hat – die Bühne von Friedrich Eggert trägt zum Schauwert der Aufführung wesentlich bei – und gefragt wird, wie sie das in nur einer Woche hinbekommen habe, antwortet sie leichthin: „Nun, wir haben erst geplant, dann gebaut.“ In der ausverkauften dritten Vorstellung am 10. Dezember lachen an dieser Stelle die Kölner, wider die eigene Verzweiflung, denn der zugesagte Eröffnungstermin zur Opernsaison 2024/25 ist schon wieder Makulatur.

Mottl inszeniert die Operette wie es sich gehört als großen Spaß mit Travestie, Lack & Leder und peinlicher Polonäse. Eine Screwball-Comedy mit vielen Türen, Running-Gags und Slapstick. Adrian Eröd, einer der besten und erfahrensten Baritone Wiens, spielt den Grafen Danilo als leicht abgehalfterten, aber liebenswerten Lebemann. Elissa Huber ist eine sinnliche Witwe mit Musical-Erfahrung, die sich ohne forcieren zu müssen an die Spitze von Chören und Ensembles setzen kann. Dirigent Andrea Sanguineti realisiert die gesamte Produktion mit der gleichen Ernsthaftigkeit, mit der auch Lehár seine unsterblichen Melodien drechselte. Was aber wäre eine Operette ohne ein Rudel geschlechtsfluider Tänzerinnen und Tänzer, die revuehaft durch die Produktion toben, sich allenthalben umziehen und schließlich sogar singen? Die Choreografie von Christoph Jonas macht den Spaß der „Lustigen Witwe“ komplett.

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Köln: Musik der Zeit mit dem WDR Sinfonieorchester 
Laurie Anderson grüßt Jennifer Walshe

100 Jahre Radio bedeutet auch jahrzehntelangen Einsatz für die zeitgenössische Musik. In den frühen 50er-Jahren riefen die Sender ihre einschlägigen Konzertreihen ins Leben. „Musik der Zeit“ in Köln besteht seit 1951 und wird seit Sommer 2022 von Patrick Hahn verantwortet. Mit dem Programm „Pinked Dreams“ stößt er in Bereiche vor, die von den gestrengen Stammkunden der neuen Musik nur mit spitzen Fingern angefasst werden. Der britische Posaunist Alex Paxton zappelt zwischen Improvisation, Jazz und Avantgarde. Mit der irischen Vokalkünstlerin Jennifer Walshe improvisiert er ein Stück, dessen Titel den Sound seiner Musik gut wiedergibt: „Pullbackhat Blome-Dunk (a Chat-Can Let-Go)“. Das WDR Sinfonieorchester folgt mit ernster Miene den Anweisungen von Titus Engel. Möglich, dass das Hören mehr Freude bereitet als das Spielen. Es folgen zwei Frank-Zappa-Arrangements, von denen die „Revised Music for Low Budget Orchestra“ das Rennen macht, weil die Übertragung eines Gitarrensolos auf parallel geführte Soloposaune (Jeffrey Kant) und Solovioline (José Maria Blumenschein) wirklich ein Kabinettstück darstellt, ausgeführt von den Musikern des Orchesters mit Charme und Präzision. Die zweite Konzerthälfte gehört Jennifer Walshe: 26 Miniaturen für Stimme und Orchester, im Auftrag des WDR gereiht zu einem halbstündigen Potpourri. Laurie Anderson lässt grüßen. „The Site of an Investigation“ schrammt an der Popkultur entlang und berührt große Themen – über Mikroplastik bis hin zur KI. Walshe bleibt textlich wach und musikalisch anregend. Patrick Hahn ist zu klug, um mit solchen Abenden die „Musik der Zeit“ weiter zu bestreiten, und zu neugierig, um auf sie zu verzichten.

Köln: Christiane Oelze und das E-MEX-Ensemble
Ein Liederabend von Impressionismus bis Jazz

Christiane Oelze, die große Mozart-Sängerin, hat mit dem E-Mex-Ensemble und deren Dirigent Christoph Maria Wagner einen Liederabend erarbeitet, der so grenzgängerisch ist, wie das Profil des aus Essen stammenden Ensembles insgesamt. Am 17. Dezember spannt sich in der Kölner Philharmonie der Bogen vom Fin de Siècle über den Jazz bis zur Gegenwart. Nach Musik von Fauré und Ravel, distanziert wie unter Milchglas, wartet vor allem ein Liederzyklus des Dirigenten, „Der Übersetzer der Sehnsüchte“. Wagner mischt unter kompakten rhythmischen Figuren Klänge, die sanft von einem Akkord zum nächsten gleiten und dabei noch in sich changieren. Das achtköpfige Ensemble spielt dies mit impressionistischer Eleganz und greift am Ende zu Wassergläsern. Den sphärischen Sound im Ohr geht das Publikum in die Pause, um sich auf Weill und Gershwin in der zweiten Hälfte zu freuen (ergänzt u. a. durch den fröhlichen „Juba Dance“ aus der Ersten Symphonie von Florence Price). Christiane Oelze intoniert mit großer Genauigkeit, da wird nicht geschliffen oder mit sattem Vibrato durchlöchert. Ihr zuzuhören bereitet größtes Vergnügen. Vollends ihr „Alabama Song“ springt so perfekt in den Spagat zwischen Nachtclub und Opernbühne, wie Weill es sich wünschte. Als Zugabe entlässt uns ein Christmas Charol von Charles Ives in den Dritten Advent und mit ihm der Wunsch nach Frieden. 

Köln: Quatuor pour la fin de Temps
Ob sich nicht doch ein Engel zeigt?

Mein Weihnachtserlebnis im Konzertsaal habe ich aber mit Olivier Messiaens „Quatuor pour la fin du Temps“. Fast prüft auf dem Nachhauseweg der Blick gen verregnetem Kölner Nachthimmel, ob sich nicht doch ein Engel zeige. Die Wirkung dieser Musik gründet sich zum Teil in der oft erzählten Geschichte von der Uraufführung 1941 in einem Kriegsgefangenenlager nahe Görlitz. Vor allem aber altert ihre Harmonik nicht, eine Harmonik, die zwischen süßen Kadenzen und rüden Dissonanzen vermittelt. Sie ist kantig und weich zugleich. Selbst die Interpreten ergeben sich der emotionalen Intensität, in diesem Fall der spanische Klarinettist Pablo Barragán und das formidable Sitkovetsky Trio, namentlich: Alexander Sitkovetsky (Violine), Isang Enders (Violoncello) und Wu Qian (Klavier). Die Ruhe und Beherrschtheit der Pianistin und ihrer drei Kollegen gipfeln in einem kaum noch hörbaren Piano. Sie spielen so hauchdünn, als fürchteten sie das Ausplaudern des musikalischen Gedankens. Das Publikum am 5. Dezember in der Kölner Philharmonie lässt sich von der ungewöhnlichen Intensität anstecken. Standing Ovations nach einem Konzert, das weit mehr mit dem Wunder der Weihnacht zu tun hat als der benachbarte Budenzauber rund um den Dom. 

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